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Alles verändern!

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tochangeeverything.com

Dieses Projekt wurde von CrimethInc. – einem internationalen Netzwerk ehrgeiziger Revolutionär_innen – herausgegeben. Der Text entstand in Kooperation mit Gefährt_innen aus fünf Kontinenten. Mehr Infos auf tochangeverything.com

Wenn du etwas Beliebiges verändern könntest, was wäre es? Würdest du für den Rest deines Lebens Urlaub machen? Dafür sorgen, dass fossile Brennstoffe aufhören Klimawandel zu verursachen? Dir ethisch vertretbare Banken und Politiker_innen wünschen? Jedenfalls wäre sicherlich nichts unrealistischer, als alles so zu belassen wie es ist, und andere Resultate zu erwarten.
In unseren privaten finanziellen und emotionalen Kämpfen spiegeln sich globale Unruhen und Katastrophen wider. Wir könnten all unsere Zeit darauf verwenden, ein Feuer nach dem anderen zu löschen, aber sie haben alle die selbe Ursache. Stückweise zu reformieren wird nichts in Ordnung bringen: Wir müssen alles, entsprechend einer anderen Logik, überdenken.

Um etwas zu verändern, fang überall an.

Anfangen mit
Selbstbestimmung

Das Gespenst der Freiheit spukt immer noch durch die Welt, die angeblich nach seinem Vorbild erbaut wurde. Uns wurde komplette Selbstbestimmung versprochen: alle Institutionen unserer Gesellschaft sollen sie angeblich fördern.
Wenn du komplett selbst-bestimmen könntest, was würdest du jetzt gerade tun? Denk an das unendliche Potential deines Lebens: die Beziehungen, die du haben könntest; die Erfahrungen, die du machen könntest; an all die Möglichkeiten, wie du deiner Existenz einen Sinn geben könntest. Als du geboren wurdest, schien es so, als gäbe es keine Begrenzung dafür, was du alles werden könntest. Du hast einfach alle Möglichkeiten dargestellt.
Üblicherweise hören wir auf, uns all das vorzustellen. Lediglich in den allerschönsten Momenten – wenn wir uns verlieben, einen persönlichen Durchbruch erleben oder ein weit entferntes Land bereisen – erhaschen wir einen klitzekleinen Blick darauf wie all unsere Leben sein könnten.
Was hindert dich, dein Potential voll auszuschöpfen? Wie viel Einfluss hast du auf deine Umgebung oder darauf wie du deine Zeit verbringst? Die Bürokratien, die dich danach bewerten, wie du Vorschriften erfüllst; die Wirtschaft, die dir Macht gibt, je nach dem wie viel Profit du bringst; die Bundeswehr, die dir durch „Wir. Dienen. Deutschland“ Selbstverwirklichung verspricht – ermöglichen diese Dinge dir, das Beste aus deinem Leben nach deinen Vorstellungen zu machen?
Das offene Geheimnis ist, das wir alle komplett selbstbestimmt sind: nicht weil uns Selbstbestimmung gegeben wird, sondern weil nicht einmal das totalitärste Regime sie uns nehmen könnte. Sobald wir aber für uns selbst handeln, geraten wir in Konflikt mit den Institutionen, die vermeintlich bestehen, um unsere Freiheit zu sichern.

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sich vor sich selbst zu verantworten

Managerinnen und Steuereintreiber lieben es über persönliche Verantwortung zu reden. Wenn wir aber die gesamte Verantwortung für all unsere Handlungen übernehmen würden, würden wir dann ihren Vorschriften überhaupt gehorchen können?
Historisch gesehen wurde durch Gehorsam mehr Schaden angerichtet als durch böse Absicht. Die Waffenarsenale aller Armeen dieser Welt sind die physische Manifestation unseres Willens uns Anderen zu unterwerfen. Wenn du sicherstellen willst, niemals einen Teil zu Krieg, Genozid oder Unterdrückung beizutragen, ist der erste Schritt aufzuhören, Befehlen zu gehorchen.
Dasselbe gilt für deine Werte. Unzählige Autoritäten und Regelwerke verlangen nach deiner uneingeschränkten Unterwerfung. Selbst wenn du die Verantwortung für deine Entscheidungen an einen Gott oder ein Dogma übertragen möchtest – wie entscheidest du welcher oder welches es sein wird? Ob’s dir gefällt oder nicht, du bist es, der_die sich zwischen ihnen entscheiden muss. Üblicherweise fällen Leute diese Entscheidung lediglich danach was ihnen am vertrautesten und bequemsten ist.
Wir sind zwangsläufig für unsere Überzeugungen und Entscheidungen verantwortlich. Wenn wir uns vor uns selbst verantworten und nicht vor Kommandierenden und Kommandos, könnten wir immer noch untereinander in Streit geraten – aber wenigstens würden wir dies auf unserer selbst-gewählten Grundlage tun und nicht unnötigerweise Tragödien auf Grundlage von Vorstellungen anderer anhäufen.

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der Suche nach Macht, nicht Herrschaft

Die Arbeiterinnen haben Macht über ihre Produktionskraft; die Chefs, sagen ihnen was sie tun sollen. Die Bewohner halten ein Haus in Schuss, im Grundbuch steht jedoch der Name der Besitzerin. Ein Fluss hat Energie; aber die Baugenehmigung für einen Damm reguliert die Verfügung darüber.
Macht an sich ist nicht unterdrückend. Viele Formen von Macht können befreiend sein: die Kraft für diejenigen zu sorgen, die du liebst; dich selbst zu verteidigen und Konflikte zu lösen; dir Wissen und Fähigkeiten anzueignen und all dies auch zu teilen. Es gibt Möglichkeiten die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, die gleichzeitig mehr Freiheiten für Andere schaffen. Jede Person, die versucht ihr volles Potential auszuschöpfen, macht allen Anderen ein Geschenk.
Andererseits reißt Autorität über Andere deren Macht an sich. Was du von ihnen nehmen kannst, nehmen wiederum Andere von dir. Autoritäre Systeme folgen strengen Hierarchien.

Die Soldatin gehorcht dem General, der wiederum der Präsidentin, die ihren Herrschaftsanspruch aus der Verfassung ableitet –
Der Priester gehorcht dem Bischof, der Bischof dem Papst, der Papst der Bibel, die ihre Autorität von Gott ableitet –
Der Angestellte gehorcht der Besitzerin, diese dient den Kund_innen, deren Autorität vom Euro abgeleitet wird -
Der Polizist gehorcht seinen Vorgesetzten, die, genau wie die Richterin, ihren Herrschaftsanspruch vom Gesetz ableiten -

Männlichkeit, Weiß-Sein, Eigentum: an der Spitze all dieser Pyramiden finden wir keine Tyrannen, nur soziale Konstrukte: Geister, die die Menschheit hypnotisieren.
In Hierarchien erhalten wir Macht immer nur im Austausch gegen Gehorsam. Macht und Herrschaft sind so stark verflochten, dass wir sie kaum auseinanderhalten können. Doch ohne Freiheit ist Macht wertlos.

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Beziehungen, die auf Vertrauen basieren

Vertrauen konzentriert die Macht bei jenen, die es entgegenbringen und nicht bei jenen die es erhalten. Eine Person, die sich Vertrauen verdient hat, braucht keine Absicherung durch Herrschaft. Wenn jemand nicht vertrauenswürdig ist, warum sollte die Person dann Autorität besitzen? Und dennoch: Wem vertrauen wir weniger als Politiker_innen, der Polizei oder Manager_innen?
Ohne Autoritäten haben Menschen einen Anreiz Lösungen für Konflikte zu finden – um gegenseitiges Vertrauen zu erlangen. Hierarchien blockieren diesen Anreiz und ermöglichen es den Autoritäten, Konflikte zu unterdrücken.
Freundschaft ist im besten Falle eine Verbindung zwischen gleichberechtigten Menschen, die sich gegenseitig unterstützen und herausfordern, während sie die Autonomie des/der anderen respektieren. Das ist ein wirklich guter Standard um daran alle unsere Beziehungen zu bemessen. Ohne die Zwänge die uns aktuell auferlegt werden – Staatsangehörigkeit und Illegalität, Eigentum und Schulden, wirtschaftliche und militärische Befehlsstrukturen – könnten wir unsere Beziehungen auf der Basis freier Vereinbarungen und gegenseitiger Hilfe neu aufbauen.

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der Versöhnung von Individualität und dem großen Ganzen

„Deine Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt.“ Nach dieser Logik müsste es, je mehr Menschen es gibt, umso weniger Freiheit geben.
Freiheit ist jedoch keine kleine Blase von persönlichen Rechten. So einfach kann mensch uns nicht unterscheiden. Gähnen und Lachen sind, genau wie Euphorie und Verzweiflung ansteckend. Ich bin eine Komposition aus den Klischees in meinem Kopf, den Ohrwürmern die ich habe und den Launen die ich von meinen Mitmenschen aufnehme. Wenn ich mit dem Auto fahre, verschmutze ich die Atmosphäre, die du atmest; wenn du Pharmazeutika nutzt sickern sie ins Grundwasser, das von allen getrunken wird. Das System das von allen anderen akzeptiert wird, ist das unter dem du leben musst – wenn es von anderen Leuten hingegen in Frage gestellt wird, bekommst auch du die Chance deine Realität neu auszuhandeln. Deine Freiheit beginnt wo meine beginnt und endet dort wo meine endet.
Wir sind keine vereinzelten Individuen. Unsere Körper stehen in einer Symbiose mit tausenden Spezies: statt geschlossenen Festungen sind sie andauernde Prozesse durch die ständig Mineralien und Mikroben passieren. Wir leben in einer Symbiose mit weiteren tausenden Spezies, zum Beispiel inhalieren Kornfelder das, was wir ausatmen. Ein umherschweifendes Wolfsrudel oder ein Abend voller Grillenzirpen ist genau so individuell und einheitlich wie jeder einzelne unserer Körper. Wir handeln nicht in einem Vakuum, angetrieben von irgendeinem Grund: die Gezeiten des Kosmos strömen durch uns.
Sprache dient nur der Kommunikation, weil wir sie gemeinsam teilen. Das gleiche gilt für Ideen und Wünsche: wir können sie kommunizieren, weil sie größer sind als wir. Jede_r von uns besteht aus einem Chaos gegensätzlicher Kräfte, die allesamt über uns hinaus durch Zeit und Raum gehen. Indem wir uns entscheiden welche dieser Kräfte wir pflegen wollen, legen wir fest was wir in Allen die uns begegnen fördern.
Freiheit ist kein Besitz oder Eigentum – Freiheit ist eine Beziehung. Es geht nicht darum von der Außenwelt beschützt zu werden, sondern darum auf eine Art und Weise zu interagieren durch die Möglichkeiten maximiert werden. Das bedeutet nicht, dass wir Konsens um seiner selbst Willen suchen sollten. Konflikt und Konsens können uns beide weiterbringen, solange keine zentralisierte Gewalt in der Lage ist, eine Einigung zu erzwingen oder Konflikt in einen Wettbewerb umzuwandeln, bei dem der Gewinner alles bekommt. Lasst uns lieber das Beste aus unseren gegenseitigen Verbindungen herausholen, statt die Welt in viele kleine Machtbereiche aufzuteilen.

Anfangen mit
der Befreiung der Wünsche

Für uns, in dieser Gesellschaft Aufgewachsene, sind nicht einmal unsere Leidenschaften unsere eigenen: sie sind geprägt von Werbung und anderen Formen der Propaganda, die uns immer weiter im Hamsterrad des Marktes laufen lassen. Dadurch sind Einige sogar einigermaßen zufrieden damit, Dinge zu tun, die sie auf lange Sicht ruinieren werden. So sind wir gefangen in unserem Leid und unsere Freuden sind das Siegel.
Um wirklich frei zu sein, müssen wir auf den Prozess, der unsere Wünsche produziert, Einfluss nehmen. Befreiung bedeutet nicht nur, unsere heutigen Wünsche zu befriedigen, sondern auch, unseren Sinn für das Mögliche zu erweitern, damit sich unsere Wünsche gemeinsam mit den Realitäten, die sie uns erschaffen lassen, weiterentwickeln. Das bedeutet, den Gefallen, den wir an Befehlen, Herrschaft oder Besitz empfinden abzulegen und Freuden aufzuspüren, die uns aus der Maschinerie von Gehorsam und Wettbewerb herausreißen. Wenn du jemals eine Abhängigkeit überwunden hast, war das eine Kostprobe dessen, was es bedeutet, deine Wünsche zu wandeln.

Anfangen mit
Revolte

Fanatiker geben üblicherweise einer spezifischen Gruppe die Schuld für ein systemisches Problem – Antisemit_innen sehen „Raubtierkapitalisten“, Rechtspopulisten beschuldigen Hartz IV-Empfänger_innen und Refugees. Allgemein wird oft individuellen Politiker_innen die Schuld für die korrupte Politik gegeben. Das Problem jedoch sind die Systeme an sich. Ganz egal wer die Zügel in der Hand hält, die Institutionen bringen immer die gleichen Demütigungen und Ungleichheiten hervor. Nicht etwa weil sie fehlerhaft sind, sondern weil sie genau dazu da sind.
Unsere Feinde sind nicht Menschen, es sind Institutionen und Gewohnheiten die uns voneinander und von uns selbst entfremden. In uns selbst sind mehr Konflikte als zwischen uns. Die selben Brüche, die unsere Zivilisation durchziehen, durchziehen auch unsere Freundschaften und unsere Herzen. Es handelt sich nicht um einen Kampf zwischen Menschen, sondern um einen Kampf verschiedener Beziehungsformen und Lebensweisen. Wenn wir unsere Rollen innerhalb der herrschenden Ordnung verweigern, öffnen wir diese Brüche und laden Andere ebenfalls dazu ein, Stellung zu beziehen.
Wir wollen Herrschaft insgesamt abschaffen – nicht ihre Details vernünftiger verwalten, nicht austauschen wer befiehlt und wer gehorcht, nicht das System durch Reformen stabilisieren. Statt nach legitimeren Gesetzen oder Gesetzgebenden zu verlangen, lasst uns lieber unsere eigenen Stärken erkennen und lernen sie gemeinsam zu nutzen. Es geht nicht um einen Krieg, einen binären Konflikt zwischen zwei militarisierten Feinden, sondern um sich verbreitenden Ungehorsam.
Es ist nicht genug, einfach nur zu propagieren und zu diskutieren und darauf zu warten, dass die Herzen und der Verstand der Anderen sich ändern werden. Solange Ideen nicht aktiv ausgedrückt werden und dadurch Menschen mit konkreten Wahlmöglichkeiten konfrontieren, bleiben die Gespräche abstrakt. Die Meisten bleiben theoretischen Diskussionen fern, aber wenn etwas passiert, wenn es mit hohem Einsatz um bedeutende Unterschiede geht, werden sie Stellung beziehen. Wir brauchen keine Einstimmigkeit, kein komplettes Verständnis der ganzen Welt und auch keine Karte, die uns zu einem bestimmten Ziel führt – wir brauchen lediglich den Mut einen anderen Weg einzuschlagen.

Das Problem ist
Kontrolle

Was sind die Anzeichen dafür in einer von Missbrauch geprägten Beziehung zu sein? Der Täter versucht vielleicht dein Verhalten zu kontrollieren oder dir deine Gedanken zu diktieren; deinen Zugang zu Ressourcen zu blockieren oder zu regulieren; dir Gewalt anzudrohen; oder dich in Abhängigkeit unter ständiger Überwachung zu halten.
So kann das Verhalten individueller Täter beschrieben werden, so kann aber auch das Verhalten vom Verfassungsschutz, dem Finanzamt oder der meisten anderen Institutionen, die unsere Gesellschaft regieren, beschrieben werden. All diese Institutionen basieren auf der Idee das menschliche Wesen kontrolliert, geführt und verwaltet werden müssen.
Je größer die Ungleichheiten, desto mehr Kontrolle ist nötig um sie aufrecht zu erhalten. Auf der einen Seite des Macht-Kontinuums wird Kontrolle brutal auf individueller Basis ausgeübt: Durch Drohnenangriffe, SEK-Einheiten, Isolationshaft, rassistische Kontrollen und Hausdurchsuchungen. Auf der anderen Seite ist sie allgegenwärtig und unsichtbar in die Infrastruktur unserer Gesellschaft eingebaut: die Berechnung von Schufa-Auskünften, die Art und Weise wie Statistiken erhoben werden und in Stadtplanung verwandelt werden, der Aufbau von Online-Dating-Seiten und social media Plattformen. Nicht nur der NSA sieht was wir online machen, aber er übt nicht so viel Kontrolle über unsere Realität aus wie die Algorithmen, die bestimmen welche Inhalte uns angezeigt werden, wenn wir uns einloggen.
Wenn die unendlichen Möglichkeiten des Lebens endgültig auf ein Feld von Optionen, ausgedrückt durch Einsen und Nullen, reduziert wurden, wird es keine Reibung mehr zwischen dem System in dem wir leben und dem Leben, das wir uns vorstellen geben – nicht weil wir die absolute Freiheit erreicht haben, sondern weil wir ihr Gegenteil perfektioniert haben werden. Freiheit bedeutet nicht zwischen Optionen zu wählen, sondern die Fragen zu formulieren.

Das Problem ist
Hierarchie

Es gibt viele verschiedene Mechanismen um Ungleichheiten zu legitimieren und aufrechtzuerhalten. Manche davon brauchen einen zentralisierten Apparat, wie zum Beispiel das Gerichtswesen. Andere funktionieren subtiler, wie zum Beispiel Geschlechterrollen.
Einige dieser Mechanismen sind mittlerweile komplett in Verruf geraten. Wer glaubt schon noch an Gottesgnadentum? Obwohl jahrhundertelang überhaupt gar keine andere Gesellschaftsform vorstellbar war. Andere, wie etwa das Eigentumsrecht bleiben so tief verwurzelt, dass wir uns ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen können. Und doch existieren sie alle nur auf Grund unseres kollektiven Glaubens: sie sind real, aber nicht unvermeidbar. Die Existenz von Slumlords und Führungskräften ist nicht natürlicher, notwendiger oder nützlicher als die Existenz von Kaiser_innen.
All diese Mechanismen haben sich gemeinsam entwickelt und sich gegenseitig verstärkt. Die Geschichte des Rassismus ist zum Beispiel kaum von der Geschichte des Kapitalismus zu entwirren: Weder das eine noch das andere ist vorstellbar ohne Kolonisation, Sklaverei oder die Trennung nach Hautfarben, die die Arbeiter_innen spaltete und immer noch festlegt, wer in den Gefängnissen und Armenvierteln dieser Welt lebt. Ebenso könnte individueller Rassismus ohne die Infrastruktur des Staates und andere Hierarchien dieser Gesellschaft niemals zu strukturellem Rassismus führen. Das in den USA ein Schwarzer Präsident den Vorsitz über diese Strukturen inne haben kann, bestärkt sie nur: Es ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Mit anderen Worten: so lange es die Polizei gibt, wen glaubst du wird sie schikanieren? So lange es Gefängnisse gibt, wer wird in ihnen sitzen? So lange es Armut gibt, wer wird deiner Meinung nach arm sein? Es ist naiv zu glauben, dass in einer Gesellschaft, die auf Hierarchien basiert Gleichberechtigung geschaffen werden könnte. Du kannst zwar die Karten neu mischen, das Spiel bleibt aber das gleiche.

Das Problem sind
Grenzen

Wenn eine fremde Armee in ein Land einmarschiert, die Wälder rodet, die Flüsse vergiftet und den Heranwachsenden Treueschwüre abverlangt – wer würde sich nicht bewaffnet zur Wehr setzen? Wenn jedoch die lokale Regierung das gleiche macht, stellen Patriot_innen bereitwillig Gehorsam, Steuern und ihre Kinder zur Verfügung.
Grenzen schützen uns nicht, sie spalten uns – sie erschaffen nutzlose Spannungen mit den Ausgeschlossenen und verdunkeln die realen Unterschiede unter den Eingeschlossenen. Selbst die demokratischsten Regierungen basieren auf dieser Spaltung in Teilnehmende und Außenseiterinnen, legitim und illegitim. Im antiken Athen, dem berühmten Geburtsort der Demokratie, war nur eine kleine Zahl der Männer in den politischen Prozess involviert, die Gründerväter der modernen Demokratie waren Sklavenhalter. Die Staatsangehörigkeit erzeugt immer noch eine Grenze zwischen Teilnehmenden und Ausgeschlossenen dieser Gesellschaft und entzieht so hunderttausenden oder gar Millionen Menschen ohne Papiere die Kontrolle über ihre Leben.
Es gibt die linke Idee die Grenzen der Inklusion so weit zu expandieren bis die gesamte Welt in ein umfassendes demokratisches Projekt integriert ist. Ungleichheit ist aber in den Strukturen vorprogrammiert. Auf jeder Ebene dieser Gesellschaft unterteilen uns tausende kleine Grenzen in mächtig und ohnmächtig: Sicherheitskontrollen, Schufa-Auskünfte, Zugang zu Daten, Preisschilder. Wir brauchen Formen der Zusammengehörigkeit, die nicht von Ausschluss bestimmt sind, die nicht Macht und Legitimität zentralisieren, die Empathie nicht auf kleine geschlossene Communities beschränken.

Das Problem ist
Repräsentation

Nur durch Handeln kannst du dich selbst ermächtigen; deine Interessen kannst du nur kennen lernen, wenn du dich ihnen entsprechend verhältst. Wenn alle Bemühungen Einfluss auf die Welt auszuüben durch die Vermittlung durch Repräsentant_innen oder durch die Vorschriften der Institutionen kanalisiert werden müssen, entfremden wir uns voneinander und von unserem Potential. Jeder Aspekt unserer Handlungsfähigkeit, den wir abgeben, taucht uns gegenüber wieder als etwas uns unbekanntes und feindliches auf. Die uns immer wieder enttäuschenden Politiker_innen zeigen uns lediglich wie viel Macht wir über unsere Leben aufgegeben haben; Polizeigewalt ist die düstere Konsequenz aus unserem Verlangen die persönliche Verantwortung für das Geschehen in unseren Vierteln abzugeben.
Im digitalen Zeitalter, in dem wir alle permanent unsere Darstellung nach Außen verwalten und managen müssen, ist unsere Selbstwahrnehmung zu etwas kraft-raubendem Externen geworden. Wären wir nicht derart isoliert voneinander, stünden wir nicht im kontinuierlichen Wettbewerb darum, uns auf allen möglichen professionellen und sozialen Märkten zu verkaufen – würden wir dann so viel Zeit und Energie in diese Profile stecken? In die goldenen Waben, geformt nach unserem eigenem Bild?
Wir sind nicht reduzierbar. Weder Delegierte noch Abstraktionen können für uns einstehen. Durch das Reduzieren menschlicher Wesen und Erfahrungen auf demographische Schichten, auf bloße Daten, verlieren wir den Blick für alles kostbare und einzigartige in dieser Welt. Wir brauchen Präsenz, Unmittelbarkeit, direkten Kontakt miteinander und Kontrolle über unser Leben – etwas, dass uns kein_e Repräsentant_in und keine Repräsentation geben kann.

Das Problem sind
Anführer_innen

Herrschaft ist eine soziale Unordnung in der der Großteil der Teilnehmenden darin versagt Initiative zu ergreifen und über ihre eigenen Handlungen kritisch nachzudenken. Solange wir Handlungsfähigkeit als Eigentum spezifischer Individuen und nicht als soziale Beziehung betrachten, werden wir immer abhängig von Herrschenden sein – und von ihrer Gnade. Wirklich vorbildliche Führungspersönlichkeiten sind genauso gefährlich wie die offensichtlich korrupten: All ihre lobenswerten Eigenschaften stärken lediglich ihren Status und die Unterwürfigkeit Anderer, ganz abgesehen davon, dass sie so Herrschaft insgesamt legitimieren.
Immer wenn die Polizei zu einer Aktion oder Demo kommt fragt sie zuerst nach „dem Verantwortlichem“ – nicht etwa weil Herrschaft essentiell für kollektive Aktionen ist, sondern weil sie eine Schwachstelle darstellt. Als die Konquistadoren in der so genannten Neuen Welt ankamen stellten sie die selbe Frage; und wo immer sie eine Antwort bekamen, ersparte diese ihnen jahrhundertelange Probleme damit die lokale Bevölkerung zu bändigen. So lange es einen Anführer gibt, kann dieser ernannt, ersetzt oder als Geisel genommen werden. Im besten Fall ist die Abhängigkeit von Herrschenden eine Achillesferse; im schlimmsten Fall reproduziert diese Abhängigkeit die Interessen und Machtstrukturen der Herrschenden innerhalb derjenigen, die ihnen eigentlich gegenüber stehen. Schöner wäre es wenn alle einen Sinn für die eigene Handlungsfähigkeit und die eigenen Vorstellungen hätten.

Das Problem sind
Regierungen

Regierungen versprechen uns Rechte, sie können uns aber nur Freiheiten nehmen. Die Grundidee von „Rechten“ beinhaltet eine zentrale Macht die diese Rechte zugesteht und garantiert. Wenn sie mächtig genug sind uns etwas zu garantieren, sind sie auf jeden Fall auch mächtig genug es uns wieder zu nehmen. Regierungen dazu zu ermächtigen ein Problem zu lösen, gibt ihnen lediglich die Möglichkeit noch mehr Probleme zu erschaffen. Außerdem generieren Regierungen Macht nicht aus dem Nichts – es ist unsere Macht, die sie ausüben, die wir wesentlich effektiver ohne das Spektakel der Repräsentation einsetzen könnten.
Selbst die liberalste Demokratie teilt die gleichen Prinzipien mit den despotischsten Diktaturen: Die Zentralisierung von Macht und Legitimität in einer auf dem Gewaltmonopol basierenden Struktur. Ob die Bürokrat_innen dieser Struktur einem König, einer Kanzlerin oder einer Wählerschaft Rechenschaft schuldig sind ist irrelevant. Gesetze, Bürokratien und die Polizei bestehen länger als die Demokratie; sie funktionieren in einer Demokratie genau so wie in einer Diktatur. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir sie, weil wir ihre Befehlsgeber_innen wählen können, als unsere ansehen sollen – selbst wenn sie gegen uns genutzt werden.
Diktaturen sind grundsätzlich nicht stabil: sie können ganze Generationen abschlachten, einsperren und manipulieren – die nächste Generation wird den Kampf für Befreiung wieder neu erfinden. Wird aber jedem Individuum eine Chance versprochen, den Willen der Mehrheit allen Mitmenschen aufzudrücken, so können alle in ein System integriert werden, dass sie im Endeffekt nur gegeneinander ausspielt. Je mehr die Leute daran glauben Einfluss auf die Zwangsinstitutionen des Staates zu haben, desto populärer werden diese. Vielleicht ist das auch eine Erklärung dafür warum mit der globalen Verbreitung der Demokratie unglaubliche Ungleichheiten bezüglich der Verteilung von Rohstoffen und Macht einhergehen: keine andere Regierungsform könnte so eine prekäre Situation stabilisieren.
Wenn Macht zentralisiert ist, müssen Menschen über Andere herrschen um auf ihr eigenes Schicksal Einfluss ausüben zu können. Unabhängigkeitskämpfe werden in Wettbewerbe um die politische Macht kanalisiert: Ein Zeugnis davon sind die Bürgerkriege in postkolonialen Ländern zwischen Bevölkerungsgruppen, die vorher friedlich nebeneinander existierten. Die Herrschenden können ihre Macht nur durch andauernden Krieg – sowohl gegen ihre eigene als auch gegen fremde Bevölkerungen – aufrecht erhalten. Die Bundeswehr trainiert auf dem Gefechts-Übungs-Zentrum (GÜZ) den Einsatz gegen revoltierende Massen, dabei sind die Namen der dort aufgebauten Übungsdörfer austauschbar.
Wo immer es Hierarchien gibt, begünstigen diese diejenigen, die an ihrer Spitze stehen und ermöglichen es ihnen Macht zu zentralisieren. Wenn wir dieses System durch mehr Kontrolle und Ausgleiche ausbessern wollen, bedeutet dies lediglich, dass wir uns Schutz von etwas erhoffen, vor dem wir eigentlich geschützt werden sollten. Die einzige Möglichkeit Druck auf die Herrschenden auszuüben, ohne in ihr Machtspiel hinein gezogen zu werden, ist der Aufbau horizontaler, autonomer Netzwerke. Wenn wir jedoch mächtig genug sind, dass die Herrschenden uns ernst nehmen müssen, wären wir auch in der Lage unsere Probleme direkt ohne sie zu lösen.
Es gibt keinen Weg zur Befreiung ohne Freiheit. Statt einem winzigen Nadelöhr an dem sich alle Handlungsfähigkeit sammelt, brauchen wir eine große Bandbreite von Austragungsorten an denen wir uns selbst ermächtigen können. Statt einer einzigen Währung die uns Legitimität verleiht, brauchen wir Platz für viele verschiedene Begründungen. Anstelle der Zwänge, die jeder Regierung innewohnen, brauchen wir Strukturen der Entscheidungsfindung die Autonomie fördern und in der Lage sind sich gegen Möchtegern-Herrscher_innen zu verteidigen.

Das Problem sind
Gewinne

Geld ist der ideale Mechanismus um Ungleichheiten herzustellen und festzuschreiben. Es ist abstrakt: Es wirkt so als könnte mensch durch Geld alles repräsentieren. Es ist universell: Menschen, die ansonsten nichts gemeinsam haben, akzeptieren es als Tatsache des Lebens. Es ist unpersönlich: Anders als erbliche Privilegien lässt es sich sofort von einer Person zur anderen übertragen. Es fließt: je einfacher sich eine Position innerhalb einer Hierarchie wechseln lässt, desto stabiler ist die Hierarchie an sich. Viele die gegen einen Diktator revoltieren würden, akzeptieren bereitwillig die Autorität des Marktes.
Wenn alles einen Preis hat, verlieren selbst die einzigartigen Momente unseres Lebens ihre Bedeutung und werden zu bloßen Wertmarken in einer abstrakten Kalkulation der Macht. Alles was nicht finanziell messbar ist, lassen wir am Wegrand zurück. Das Leben wird zum Gerangel um finanzielle Vorteile: Alle gegen alle, verkaufen oder verkauft werden.
Gewinne machen bedeutet in Relation zu allen anderen mehr Kontrolle über die Ressourcen der Gesellschaft zu erlangen. Wir können nicht alle auf einmal profitieren; für jede Person die profitiert müssen proportional gesehen andere Einfluss verlieren. Wenn Bosse Gewinne aus der Arbeit ihrer Angestellten machen bedeutet es, dass der finanzielle Spalt zwischen ihnen umso größer wird, je mehr die Angestellten arbeiten.
Ein Profit-geleitetes System produziert Armut in der selben Geschwindigkeit in der es Reichtum konzentriert. Der Zwang zur Konkurrenz sorgt schneller als jedes vorige System für neue Innovationen, daneben produziert es jedoch auch ständig zunehmende Ungleichheiten: Einst wurden Unberittene von Berittenen regiert, nun fliegen Bundeswehrkampfjets zur Aufklärung bei Großprotesten über G8-Gegner_innen. Und weil alle dem Gewinn hinterherjagen müssen, statt etwas um seiner selbst willen zu machen, können die Resultate dieser Arbeit katastrophal sein. Der Klimawandel ist nur die neueste in einer Serie von Katastrophen, bei der selbst die mächtigsten Kapitalist_innen machtlos sind. Tatsächlich belohnt der Kapitalismus Unternehmen nicht dafür Krisen zu bewältigen, sondern dafür aus ihnen Gewinn zu schlagen.

Das Problem ist
Eigentum

Die Grundlage des Kapitalismus sind Eigentumsrechte – ein weiteres soziales Konstrukt, dass wir von Monarchien und Aristokratien geerbt haben. Eigentum wechselt heutzutage schneller den Besitzer, das Konzept jedoch bleibt das selbe: Die Idee von Inhaberschaft legitimiert den Einsatz von Gewalt um von Menschen erschaffene Ungleichheiten in Bezug auf Zugang zu Land und Ressourcen zu erzwingen.
Einige Leute glauben, dass Eigentum auch ohne den Staat existieren würde. Allerdings sind Eigentumsrechte ohne eine zentralisierte Autorität, die diese durchsetzen kann, bedeutungslos – und andersherum ist nichts wirklich deines solange eine zentralisierte Autorität besteht. Das Geld, das du verdienst, ist geprägt vom Staat; es ist Steuern und Inflation unterworfen. Ob du dein Auto fahren darfst hängt von der Zulassung des TÜV ab. Dein Haus gehört nicht dir, sondern der Bank, die dir den Kredit gegeben hat; selbst wenn du es abbezahlt hast, übertrumpft Enteignung immer noch jegliche Eigentumsurkunde.
Was würde es bedeuten die Dinge, die uns wichtig sind, zu beschützen? Regierungen existieren nur auf Grundlage dessen, was sie uns genommen haben; sie werden immer mehr nehmen als geben. Der Markt belohnt uns nur dafür unsere Mitmenschen auszunehmen, und andere dafür uns auszunehmen. Die einzige wirkliche Absicherung liegt in unseren sozialen Bindungen: Wenn wir uns sicher fühlen wollen, brauchen wir Netzwerke gegenseitiger Hilfe, die in der Lage sind sich selbst zu verteidigen.
Wenn unsere Beziehungen zu Dingen nicht durch Eigentumsrechte und Geld festgelegt werden, wären sie bestimmt durch die Beziehungen, die wir zueinander haben. Heutzutage ist es andersherum: unsere Beziehungen zueinander werden bestimmt durch unsere Beziehungen zu materiellen Dingen. Eigentumsrechte abzuschaffen würde nicht bedeuten, dass du deinen Besitz verlierst; es würde bedeuten, dass weder die Polizei noch ein Börsencrash dir die Sachen, die du brauchst, wegnehmen kann. Anstatt einer Bürokratie zu gehorchen, würden wir bei den menschlichen Bedürfnissen anfangen; anstatt einen Vorteil aus den Anderen zu ziehen, würden wir Vorteile aus unseren gegenseitigen Wechselbeziehungen ziehen.
Die schlimmste Angst der Gewinner_innen dieser Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Eigentum – denn in einer solchen Gesellschaft bekämen sie nur den Respekt, den sie sich auch verdienen. Ohne Geld bekommen die Menschen Anerkennung für das, was sie für Andere tun und nicht dafür, das sie andere Menschen zwingen können etwas zu tun. Ohne Profite muss jede Leistung schon an sich die Belohnung dafür sein – und so gäbe es keinen Ansporn mehr für bedeutungslose oder destruktive Aktivitäten. Die Dinge die im Leben wirklich zählen – Leidenschaft, Freundschaft, Verständnis, … – gibt es im Überfluss. Es bedarf Hundertschaften von Polizistinnen und Sachverständigen um die künstliche Knappheit zu schaffen, die uns in diesem Hamsterrad gefangen hält.

Das letzte Verbrechen

Jede gesellschaftliche Ordnung basiert auf einem Verbrechen – das Verbrechen, dass die vorige Ordnung abgeschafft hat. Danach wird die neue Ordnung als legitim wahrgenommen, sobald die Leute anfangen sie als gegeben hinzunehmen. Das Gründungsverbrechen der USA war zum Beispiel die Rebellion gegen die britische Monarchie. Das Gründungsverbrechen der kommenden Gesellschaft – falls wir diese hier überleben sollten – wird die heutigen Gesetze und Institutionen abschaffen.
Die Kategorie Verbrechen bezeichnet alles, was die Grenzen einer Gesellschaft übertritt – im guten wie im schlechten. Jedes System ist von dem was es nicht einbeziehen oder kontrollieren kann bedroht. Jede Ordnung beinhaltet schon die Samen ihrer eigenen Zerstörung.
Nichts bleibt ewig bestehen, das gilt auch für Imperien und Kulturen. Was könnte diese Gesellschaft ablösen? Können wir uns eine Ordnung vorstellen, die nicht auf der Einteilung des Lebens in legitim und nicht-legitim, legal und illegal, Herrschende und Beherrschte basiert? Was könnte das letzte Verbrechen sein?

Durch die Feststellung dessen, was all die verschiedenen Institutionen und Mechanismen der Herrschaft gemeinsam haben, können wir erkennen, dass unsere individuellen Kämpfe auch Teil von etwas größerem sind, von etwas das uns verbinden könnte. Wenn wir uns auf Grundlage dieser Verbindung zusammen finden verändert sich alles: nicht nur unsere Kämpfe, auch unsere Handlungsfähigkeiten, unsere Begeisterungsfähigkeit – der Glaube daran, dass unsere Leben bedeutend sind. Alles was es braucht um uns zu finden ist anzufangen entsprechend einer anderen Logik zu handeln.

Anarchie findet überall dort statt, wo eine Ordnung nicht durch Zwang auferlegt wurde. Sie bedeutet Freiheit: der Prozess uns selbst und unsere Beziehungen zueinander immer wieder neu zu erfinden.
Alle ansatzweise freien Prozesse oder Phänomene – ein Regenwald, ein Freundeskreis, dein eigener Körper – sind anarchische Harmonien, die durch permanente Veränderung fortbestehen. Kontrolle von oben nach unten kann andererseits nur durch Restriktionen und Zwang aufrecht erhalten werden: Disziplin durch Strafarbeiten in der Schule; industrielle Landwirtschaft, in der Pestizide und Herbizide genetisch verändertes Getreide verteidigen; die fragile Hegemonie einer Supermacht.

Anarchismus ist die Idee, dass alle zu kompletter Selbstbestimmung berechtigt sind. Kein Gesetz, keine Regierung und kein Entscheidungsverfahren sind wichtiger als die Bedürfnisse und Wünsche von menschlichen Wesen. Die Menschen sollten ihre Beziehungen frei nach gegenseitiger Zufriedenheit gestalten können, sie sollten wann immer sie es für angebracht halten für sich selbst aufstehen können.
Anarchismus ist kein Dogma und keine Blaupause. Er ist kein System, das vermutlich funktionieren würde, wenn es nur richtig angewandt würde – wie die Demokratie – und kein Ziel, das in ferner Zukunft einmal realisiert werden könnte – wie der Kommunismus. Er ist eine Handlungsweise und eine Art unsere Beziehungen zu gestalten, die wir sofort in die Praxis umsetzen können. In Bezug auf alle Wertsysteme und Handlungsweisen können wir mit folgender Frage anfangen: Wie verteilen sie Macht?

Anarchist_innen sind gegen alle Hierarchien – gegen jede Währung, die Macht in den Händen einiger weniger konzentriert; gegen jeden Mechanismus der uns davon abhält unser Potential zu nutzen. In Ablehnung aller geschlossenen Systeme befinden wir uns in gespannter Erwartung des kommenden Unbekannten; das Chaos in uns selbst, aufgrund dessen wir in der Lage sind, frei zu sein.

Weil diese Ideen so gewöhnlich sind, können sie nur für ungewöhnliche Menschen nützlich sein. Anscheinend bist du eine_r davon. Wenn du das hier liest, bist du Teil des Widerstandes.

Um alles zu verändern, fang irgendwo an.


Alles verändern! Video

You may already be an Anarchist

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Es stimmt. Wenn deine Vorstellung von gesunden, menschlichen Beziehungen ein Abendessen mit FreundInnen ist, bei dem alle Anwesenden die Anwesenheit aller anderen genießen, bei dem die Verantwortung freiwillig und informell geteilt wird und niemand Anweisungen gibt oder etwas verkaufen will, dann bist du eine AnarchistIn, schlicht und einfach. Die einzige Frage, die bleibt, ist, wie du es hinkriegen kannst, dass mehr Miteinander mit anderen entsprechend gestaltet wird. Wann immer du handelst, ohne auf Anweisungen oder offizielle Genehmigungen zu warten, bist du eine AnarchistIn. Jedes Mal, wenn du eine lächerliche Regel ignorierst, sobald niemand es sieht, bist du eine AnarchistIn.
Wenn du nicht glaubst, dass die Regierung, die Schule, Hollywood oder deine Vorgesetzten besser wissen, was für dich gut ist, sobald es um Angelegenheiten geht, die dein Leben betreffen, dann ist auch dies Anarchismus. Und du bist ganz besonders dann einE AnarchistIn, wenn du eigene Ideen und Lösungen entwickelst. Offensichtlich ist es also der Anarchismus, der das Leben am Laufen hält und es interessant macht. Wenn wir darauf warten, dass Autoritäten, Expertinnen und Technokraten die Verantwortung für alles übernehmen, werden wir nicht nur weiter in einer Welt voller Probleme leben, sondern auch in einer furchtbar langweiligen. Heute leben wir in einer Welt, die zu dem Maße langweilig und von Problemen durchzogen ist, zu dem wir Verantwortung und Kontrolle aufgegeben haben.
Anarchismus ist natürlich bedingt in jedem menschlichen Wesen vorhanden. Es geht nicht zwangsläufig darum Bomben zu werfen oder schwarze Masken zu tragen, auch wenn du das vielleicht im Fernsehen gesehen hast (Glaubst du alles was im Fernsehen gezeigt wird? Das ist absolut nicht anarchistisch!). Die Wurzel des Anarchismus liegt in dem simplen Impuls selbst Verantwortung zu übernehmen: Alles andere folgt dann ganz von selbst.

Syriza kann Griechenland nicht retten

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Übersetzung von magazin: Original und PDF | Englischer Originaltext

Warum keine Wahl aus der Krise herausführt

Nach Jahren der Wirtschaftskrise und Sparmaßnahmen entschieden sich am 25. Januar die griechischen Wähler dafür, dass die politische Partei Syriza die Zügel des Staates in die Hand bekommt. Syriza – bestehend aus einer Koalition von Sozialisten, Kommunisten und Grünen – scheint autonomen sozialen Bewegungen wohlgesonnen; ihre Führer versprechen gegen die Sparpolitik und die Polizeigewalt vorzugehen.
Viele außerhalb Griechenlands haben von Syriza zum ersten Mal im Dezember 2008 gehört, die damals – als eine über weniger als 5% der Wähler verfügende linksradikale Gruppe – praktisch die einzige Partei war, die die Ausschreitungen nicht verdammte, die auf die Ermordung von Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei folgten. Mittlerweile ist Syriza zur mächtigsten Partei Griechenlands geworden. Sie bekommt viele Stimmen von Wählern, die davor weniger radikale Parteien unterstützt haben – und auch von einigen, die an den Bewegungen beteiligt waren und davor überhaupt keine Parteien unterstützt haben. Sogar einige griechische Anarchisten hoffen, dass die Wahl von Syriza ihnen eine dringend benötigte Verschnaufpause gewähren wird, nach Jahren sich verstärkender staatlicher Gewalt und Unterdrückung.
Aber wird der Sieg von Syriza den Bewegungen für einen gesellschaftlichen Wandel Luft zum Atmen verschaffen – oder sie ersticken? Wir haben solche Versprechen von „Hoffnung und Wandel“ schon erlebt; namentlich als Obama die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten gewonnen hatte, aber auch als Lula und andere linke Politiker in Lateinamerika an die Macht kamen. Als Lula 2002 gewählt wurde, gab es in Brasilien einige der weltweit mächtigsten sozialen Bewegungen; sein Sieg war solch ein Rückschlag für die Graswurzelbewegungen, dass es für die Brasilianer bis 2013 brauchte, bis sie wieder eine wirkliche Herausforderung für das neoliberale Projekt aufbauen konnten, das er von seinen Vorgängern übernommen hatte.
Die Auswirkungen des Erfolges von Syriza wird man rund um die Welt spüren, besonders bei den Teilnehmern der gesellschaftlichen Bewegungen, die diese Partei repräsentieren will. Syriza nachempfundene Parteien sind überall in Europa auf dem Vormarsch. Die internationalen Finanzinstitutionen beobachten die griechische Versuchsanstalt, Millionen von Menschen, die es satt haben, auf der Verliererseite des Kapitalismus zu stehen ebenso – aber auch nationalistische und faschistische Gruppen, die hoffen, aus der Wut der Vielen Nutzen zu ziehen. Wir müssen verstehen, warum solche Parteien soviel Unterstützung erlangen, worin ihre strukturelle Rolle für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus und des Staates besteht und wie ihr Aufstieg und unvermeidlicher Fall den Rahmen des Widerstandes verschieben wird. Anarchisten müssen sich insbesondere auf intensive Kämpfe vorbereiten, die folgen werden, wenn die Lage sich ändert, sonst finden wir uns alleine wieder und in eine Ecke gedrängt.

Politische Parteien im Zeitalter der Aufstände

Armut, Arbeitslosigkeit, unerschwingliche Kosten für Bildungs- und Gesundheitswesen, Obdachlosigkeit, Hunger, von der Not erzwungene Abwanderungen, Rassismus, Kriminalisierung, Entfremdung, Demütigung, Selbstmord… Das sind nicht einfach Konsequenzen der Finanzkrise, sondern die Bedingungen, mit denen Milliarden von Prekären seit Jahrzehnten alltäglich konfrontiert sind, weil sie als Laborratten im neoliberalen Experiment dienen. Allerdings wurden durch die ungleiche Verteilung der Auswirkungen des fordistischen Kompromisses viele Europäer lange von dieser Wirklichkeit verschont, bis zum Beginn des Zusammenbruchs des Wohlfahrtsstaates im Jahr 2008.
Mit dem Beginn der Finanzkrise wurden viele, die zuvor ein relativ komfortables Mittelklassenleben führten, über Nacht in Armut gestürzt. Jahre des Aufbegehrens folgten überall in Europa – nicht nur in Griechenland, sondern auch in Island, Spanien, England und der Türkei. Fast jedes europäische Land hat nach 2008 eine breite Rebellion der Bevölkerung erlebt, bis hoch ins sozialdemokratische Schweden. Die meisten davon begannen als Bewegungen um Einzelforderungen – die Studentenrevolte in Kroatien, die Proteste gegen die Goldminen in Rumänien, die Proteste gegen Korruption in Slowenien –, haben dann rasch einen grundsätzlicheren Charakter angenommen und sich der Sparpolitik, dem politischen System oder sogar dem Kapitalismus und dem Staat entgegengesetzt. Bürgermeister und Minister traten zurück, Polizeiwachen und Parlamente brannten, Regierungen fielen. Im Kern dieser Bewegungen waren nicht nur Anarchisten – in einigen Ländern wie der Ukraine und Bulgarien steuerten die Bewegungen in eine nationalistische Richtung. Aber überall öffneten diese Proteste einen Raum in dem Leute, die sich vorher nie politisch assoziiert hatten, zusammen ihre Wut zum Ausdruck bringen konnten; an vielen Orten, etwa in Bosnien, bestanden die kämpferischsten Teilnehmer aus Menschen, die nie zuvor auf die Straße gegangen waren. Das Vertrauen in den Parlamentarismus stürzte auf ein Rekordtief, und Menschen entdeckten die direkte Aktion neu.
Diese Proteste waren alles andere als aus einem Guss und verblieben eher im Reformismus, als dass sie grundsätzlich wurden. Viele erreichten ihren Höhepunkt in kleinen Siegen, wie dem Rücktritt der Regierung (Slowenien) oder dem Versprechen auf Verhandlungen mit der politischen Elite (wie in Bosnien). Teilnehmer, die leicht erreichbare Veränderungen erwartet haben, blieben am Ende enttäuscht zurück. Aber die instabile Situation stellte eine wachsende Gefahr für die herrschende Ordnung dar.
Die erste Reaktion des Staates war die Kriminalisierung des Widerstandes. Einerseits sollte das diejenigen einschüchtern, die das erste Mal protestierten: Oft wurden die schärfsten Urteile gegen die unerfahrensten Teilnehmer ausgesprochen, die keine Unterstützung durch Netzwerke hatten. Andererseits nahm die Repression Anarchisten und andere entschiedene Gegner der herrschenden Ordnung ins Visier. Im letzten Jahrzehnt wurden zahlreiche autonome Zentren geräumt (Ungdomshuset in Dänemark, Villa Amalias in Griechenland, Klinika in Prag) und „Antiterror“-Razzien gegen jeden sich zeigenden Widerspruch durchgeführt wie bei der Operation Pandora in Spanien oder der weiter andauernden Drangsalierung von Anarchisten in Großbritannien. Spanien, Griechenland und andere Länder führten außerdem schärfere Demonstrationsgesetze ein.
Die andere Antwort bestand im Versuch, diese Bewegungen zu kooptieren. Die Protestierenden hatten ausgerufen: „KEINER REPRÄSENTIERT UNS!“ – gemeint nicht nur als Klage gegen die bestehenden Parteien, sondern als Ablehnung des Prinzips der Repräsentation und der liberalen Demokratie. Leute, die gerade erst ihre politische Macht entdeckt hatten, experimentierten mit direkter Aktion und kollektiven Entscheidungsprozessen wie den Volksversammlungen in Spanien, Griechenland und Bosnien. Als Antwort haben paternalistische Intellektuelle und die hysterische Medienlandschaft gefordert, dass die Protestler politische Parteien bilden, um ihre Stimmen zu vereinigen und mit dem Staat zu verhandeln. Zur gleichen Zeit positionierten sich neue politische Parteien in diesen Bewegungen, indem sie gefangengenommene Protestanten verteidigten (wie Syriza in Griechenland), die Ziele der Proteste in den Medien und im Parlament unterstützten (wie Združena levica in Slowenien) und ihnen ihre Mittel zur Verfügung stellten (wie Die Linke in Deutschland). Sie entwickelten scheinbar ein Partei-Bewegungs-Modell und banden die Protestgruppen sowie ihre Forderungen in ihre organisatorischen Strukturen ein.
Syriza hat seine eigenen, spezifischen Ursprünge im besonderen Kontext Griechenlands. Genauso Podemos in Spanien, Die Linke in Deutschland, die Parti de Gauche in Frankreich, Radnička fronta in Kroatien, Združena levica in Slowenien und Bloco de Esquerda in Portugal. In diesem geschichtlichen Augenblick erfüllen sie jedoch dieselbe grundlegende Funktion. Konfrontiert mit so starkem Unmut, kommen der herrschenden Ordnung neue radikale politische Parteien auf einmal sehr gelegen.Und zwar, wenn diese versprechen, die Rufe nach „wahrer Demokratie“ innerhalb des bestehenden Systems zu verkörpern. Was auch immer die Intention ihrer Mitglieder ist, die strukturelle Rolle der neuen Parteien wird darin bestehen, das Vertrauen in die repräsentative Demokratie wieder herzustellen, die unkontrollierbaren außerparlamentarischen Bewegungen zu neutralisieren und den Kapitalismus und den Staat wieder als einzig denkbare gesellschaftliche Ordnung zu etablieren. Wenn sie die Hallen der Macht betreten, verpflichten sie sich selbst dazu, die autoritären Institutionen und die ungleiche Verteilung des Wohlstandes zu verewigen, die die Bewegungen auslösten, aus denen sie selbst ursprünglich hervorgingen.
In solchen Zeiten werden diejenigen, die aus der herrschenden Ordnung ihren Nutzen ziehen, bereit sein, kleine Änderungen zu riskieren, um große zu verhindern. Die wachsende Beliebtheit all dieser Parteien bei den Wahlen überall in Europa zeigt, dass das mit dem griechischen Aufstand 2008 begonnene Kapitel geschlossen wurde. Läuft alles wie bei den bisherigen Beispielen, werden diese Parteien den Kapitalismus und die Staatsmacht wieder stabilisieren und dann von der Bühne der Geschichte verschwinden, um den nächsten Verteidigern des gegenwärtigen Zustands Platz zu machen – oder sie werden selbst zu diesen.

Griechenland, die Peripherie der Zukunft

Griechenland hat von Anfang an eine Vorreiterrolle bei diesen Vorgängen gespielt. Griechische Kameraden haben sich die Straßen genommen, schon Jahre, bevor sich die Revolten von Ägypten bis nach Brasilien ausbreiteten, und sie haben sie seither niemals wirklich verlassen. Währenddessen verhängten die Geldgeber, die der griechischen Wirtschaft aus der Klemme geholfen haben – die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond –, ein Sparpaket nach dem anderen.
Wie sieht das bei genauerer Betrachtung aus? Vor einigen Jahren sammelten anarchistische Gruppen überall in Europa Geld für eine griechische Kameradin, die ihr Kind wegen einer lebenswichtigen Operation außer Landes schaffen musste. Der Grund war, dass der griechische Staat im Zuge der finanziellen Einschnitte bestimmte Operationen schlicht eingestellt hatte. Diese Geschichte ist nur eine unter vielen, und viele Leute haben nicht das Privileg, eine Gemeinschaft zu haben, die sie auf diese Weise unterstützt. Während die Faschisten der Goldenen Morgenröte Genossen wie Pavlos Fyssas auf der Straße ermorden und die Polizei Migranten an den griechischen Grenzen der Festung Europa umbringt, tötet der Staat die armen Leute an den Pforten der Krankenhäuser, indem er ihnen die Gesundheitsversorgung verweigert.
Als der Staat Krankenhäuser, Fernsehstationen, Schulen und Kindergärten geschlossen hatte, organisierten sich Anarchisten und andere selbst, um unabhängige Kliniken, Erziehungsprojekte, öffentliche Küchen, Sozialprogramme und Nachbarschaftsversammlungen zu einzurichten. In den folgenden Jahren wurde die griechische anarchistische Bewegung zu einer der gesellschaftlichen Hauptkräfte, indem sie Tausende dazu mobilisierte, an ihrer Seite zu kämpfen. Gleichzeitig nützte diese ideologische Polarisierung auch den Faschisten in Griechenland. Die Goldene Morgenröte bekam Sitze im Parlament, während Polizeibeamte ihre Reihen anschwellen liessen. Die Polizeirepression gegen anarchistische Demonstrationen wurde nun permanent und gnadenlos gewaltsam. Die von der äußersten Rechten kontrollierten Medien deckten dies mit einer Mauer des Schweigens, und die neuen Hochsicherheitsgefängnisse, die von der konservativsten Regierung seit dem Fall der Militärjunta 1970 erbaut worden waren, füllten sich mit Gefangenen.
Das waren die Voraussetzungen unter denen eine kleine Koalition aus Trotzkisten, Maoisten, Grünen und Sozialdemokraten unter dem Namen Syriza und der Führung von Alexis Tsipras an Popularität gewann. Als Tausende Menschen, die weder zu anarchistischen noch linken Gruppen gehörten, mit den Anarchisten marschierten und mit der Polizei aneinander gerieten – im Kampf gegen den Goldabbau in Chalkidiki, bei der Verteidigung des autonomen Zentrums Villa Amalias, im Kampf gegen die Goldene Morgenröte und auf Solidaritätsdemonstrationen für Migranten – bezog Syriza zu denselben Themen Position. Sie sprachen sie im Parlament an, und ihre Mitglieder nahmen an Demonstrationen teil. Wann immer es möglich war, zogen sie aus diesen Kämpfen Vorteile, um mediale Aufmerksamkeit zu erlangen.
Syriza versprach das Ende der Sparmaßnahmen – auch wenn diese Rhetorik für die Wahl zum Versprechen abgemildert wurde, die Bedingungen der griechischen Schulden neu zu verhandeln. Sie versprach, die brutalsten Polizeieinheiten aufzulösen – wegen der Wahlen wurde das darauf reduziert, die Beamten zu entwaffnen, die mit Demonstranten in direkten Kontakt geraten. Syriza versprach den Austritt aus der NATO – wegen der Wahlen wurde das darauf reduziert, nicht an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Syriza versprach, die Hochsicherheitsgefängnisse zu schließen und die Universitäten wieder zur No-Go-Zone für die Polizei zu machen, ein legales Privileg, welches die Bewegung nach dem Dezember 2008 verlor, was sich als ein großer Rückschlag in den Auseinandersetzungen mit der Polizei erwies.
Syriza hat weniger Macht, Menschen auf die Straße zu bringen, als Anarchisten, aber die Partei verstand es, die Menschen an die Wahlurnen zu bringen. Das beschreibt treffend den Wandel, den die angeblichen Gegner Syrizas gerne bei den gesellschaftlichen Bewegungen in Griechenland und überall in Europa sehen würden. Während einige das Gerücht verbreiteten, nach einem Wahlsieg Syrizas könne es zu einem Wahlbetrug oder Militärputsch kommen, behaupteten andere, Syrizas Sieg würde zum Bankrott Griechenlands führen. Zur selben Zeit verbirgt die herrschende Klasse Europas die Tatsache, dass sie mit Syriza ein gutes Los gezogen hat – verglichen mit der gesellschaftlichen Bewegung, aus der die Partei hervorgegangen war. Genauso, wie Polizeigewalt Widerstand eher katalysiert, als ihn zu unterdrücken, könnte ein Wahlbetrug oder ein Eingreifen des Militärs eine neue Welle der Bewegung in Griechenland und in Europa auslösen. Die Reaktionen auf die Wahl Syrizas werden in ihrer Rhetorik harsch sein, aber versöhnlich in der Praxis. Mit der Herausforderung konfrontiert, die Staatsmacht zu behaupten, wird Syriza wahrscheinlich sehr viel weniger bieten, als die Partei versprochen hat. In einer globalisierten Welt, in der ein Land über Nacht bankrott gehen kann, brauchen die Kapitalisten keinen Coup zu organisieren, um ihren Willen zu bekommen.

Unsere Träume werden niemals in ihre Wahlurnen passen

Wer keinen Zusammenhang zwischen der Art und Weise sieht, wie die Politik der Wahlen und der Kapitalismus Macht konzentrieren, für den ist es verlockend, sich vorzustellen, dass eine neue politische Partei das System endlich so funktionieren lässt, „wie es eigentlich sein soll”. Aber sogar Anarchisten, die nicht an repräsentative Politik oder Reformen glauben, mögen die Hoffnung haben, dass eine Syriza-Regierung ein für Widerstand günstigeres Umfeld schaffen könnte. Tatsächlich ist es ein offenes Geheimnis, dass Syriza-Mitglieder als Anwälte für viele Anarchisten gearbeitet haben; warum sollten sie nicht weiter eine Beschützerrolle spielen, wenn sie an den Schalthebeln der Macht sitzen?
All das ist hoffnungslos naiv. Auf lange Sicht kann keine Partei die Probleme lösen, die vom Kapitalismus und vom Staat hervorgebracht wurden, und Syrizas Sieg wird die revolutionären Bewegungen, die wir brauchen, nur behindern. Das sind die Gründe:

Syriza wird die Legitimität der Institutionen wiederherstellen, die ursächlich für die Krise verantwortlich sind.

Tatsächlich hat bereits der Aufstieg von Syriza zur Macht die Regierungsinstitutionen für viele wieder legitimiert, die das Vertrauen in diese verloren hatten. Unabhängig von Syrizas Absichten ist dies derselbe Regierungsapparat, der den Menschen die Auswirkungen des Kapitalismus aufzwingt, indem er ihnen den Zugang zu den Mitteln verwehrt, die sie benötigen. Selbst wenn es Syriza möglich wäre, mithilfe der Staatsmacht die Folgen der Kapitalakkumulation zu bekämpfen, würde die Regierungsgewalt früher oder später wieder von denjenigen übernommen, die sie normalerweise innehaben. Wenn dies passiert, werden die Bemühungen, die Regierung zu delegitimieren, wieder ganz von vorn beginnen müssen.
Dieser Zyklus der Desillusionierung und Wiederherstellung der Legitimität dient schon seit Jahrhunderten dazu, die autoritären Strukturen des Staates zu bewahren, indem er den Kampf für wirkliche Freiheit immer auf die Zukunft verschoben hat. Es ist eine alte Geschichte, die von den französischen Revolutionen von 1789, 1848 und 1870 über die russische Revolution und die nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts bis zur Wahl von Obama reicht.
Syriza selbst wird nichts tun, um die grundlegenden Hierarchien der Politik zu untergraben. Viele dieser neuen Parteien begannen als scheinbar horizontale Netzwerke, die wahre Transparenz und demokratische Entscheidungsfindungsprozesse versprachen. Aber sobald sie größer werden, geben sie zwangsläufig horizontale Strukturen auf und beginnen, die älteren Parteien nachzuahmen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Diese Veränderungen werden oft als politischer Pragmatismus oder als Lösungen für das Problem der großen Zahl gerechtfertigt – und in der Tat passen die Erfordernisse repräsentativer Politik nicht zu den horizontalen, autonomen Strukturen, die in echten sozialen Basisbewegungen entstehen können. Daher können wir sicher sein, an der Spitze jeder erfolgreichen Partei wie Syriza, Združena levica oder Podemos einen charismatischen Führer wie Alexis Tsipras, Luka Mesec oder Pablo Iglesias zu finden. Die Persönlichkeiten dieser Führer verschränken sich mit ihren Parteien auf eine Weise, die an Hugo Chavez oder andere berühmte Politiker der Linken erinnert. Wer eine Partei aufbaut, um nach den Regeln des Staates zu spielen, der wird mit einer Struktur enden, die ein Abbild des Staates ist. Diese interne Wandlung ist der erste Schritt der Wiederherstellung des status quo.
Linke Parteien haben immer eine widersprüchliche Haltung gegenüber dem Staat an den Tag gelegt. Theoretisch beteuern sie, dass der Staat nur ein notwendiges Übel auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft sei; auf dem Feld der Realpolitik verteidigen sie jedoch immer dessen repressive Mechanismen – da keiner, der die Staatsmacht ausüben möchte, ohne sie auskommt. Manche dieser neuen Parteien warten nicht einmal ab, bis sie an die Macht kommen, um diesen Weg einzuschlagen; in Slowenien forderte die linke Oppositionspartei Združena levica als Teil ihres Kampfes gegen Sparmaßnahmen, dass die Polizei bessere Ausrüstung und mehr Personal erhalten soll. Heute sehen diese neuen politischen Parteien die Staatsgewalt als eine notwendige Voraussetzung für ihren Kampf gegen den Neoliberalismus; sie lehnen die Privatisierung von Staatsbetrieben ab und empfehlen Verstaatlichungen als eine der Hauptmaßnahmen gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Ihr Ziel ist nicht, den Staat und die von ihm durchgesetzten ökonomischen Ungleichheiten abzuschaffen, sondern, das bürgerliche Ideal des Sozialstaates durch ein neokeynesianisches Wirtschaftsprogramm zu bewahren.
Wenn dies in der Vergangenheit möglich war, so doch nur für ein paar privilegierte Länder und auf Kosten von Millionen Ausgebeuteten auf der ganzen Welt – und sogar die Nutznießer dieser Ordnung waren sich nicht sicher, ob sie diese wollten, wie die gegenkulturellen Rebellionen der 1960er zeigten. Heute, wo die Kapitalakkumulation sich in einem solchen Maße intensiviert hat, dass nur massive Sparprogramme die Wirtschaft am Laufen halten können, sind die alten Kompromisse der Sozialdemokratie unmöglich geworden, und keiner außer den linken Quacksalbern bezweifelt dies. Die Untergangsprophezeihungen deutscher Ökonomen, die vorhersagen, dass Syriza die griechische Wirtschaft ruinieren wird, sind durchaus wahr: In einer globalisierten Weltwirtschaft kann man keinen Reichtum umverteilen, ohne Kapitalflucht zu verursachen, es sei denn, man ist bereit, den Kapitalismus mitsamt den staatlichen Strukturen abzuschaffen, die ihn erhalten.
Die meisten Beteiligten der Bewegungen der letzten sieben Jahre sind noch nicht bereit, so weit zu gehen. Sie gingen aus Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungen auf die Straße, aber sie sahen diese Bewegungen als einen Weg, um eine unmittelbare Lösung zu finden, nicht als eine bloße Etappe in einem jahrhundertelangen Kampf gegen den Kapitalismus. Als die Proteste zu keinen unmittelbaren Ergebnissen führten, traten sie Parteien wie Syriza bei, die schnelle und einfache Lösungen versprachen. Aber was heute pragmatisch erscheint, wird ein peinlicher Fehler sein, an den sich morgen jeder mit Kopfschmerzen erinnert. Geht es mit Parteien nicht immer so?

Syriza hat jetzt keine andere Wahl, als Ruhe und Ordnung durchzusetzen, indem sie die Bewegungen, durch die die Partei zur Macht emporgeschwungen wurde, ruhig stellt.

Noch ist es zu früh, das genaue Verhältnis zwischen der neuen Regierungspartei und den Bewegungen, die ihr zur Macht verhalfen, zu antizipieren. Wir können nur anhand vergangener Beispiele spekulieren.
Kommen wir zurück zum brasilianischen Beispiel. Nach Lulas Machtübernahme fand sich Brasiliens stärkste soziale Bewegung, die 1,5 Millionen Mitglieder umfassende Landreformbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra) in einer deutlich schlechteren Position wieder, als noch unter der vorhergehenden konservativen Regierung. Obwohl viele Mitglieder und Führer der Bewegung auch in Lula’s Partei aktiv waren, hinderten die Sachzwänge der Staatsführung Lula daran, die Bewegung zu unterstützen. Wenngleich die MST der Vorregierung noch viele Landbesetzungslegalisierungen abringen konnte, waren ihr unter Lula keinerlei Fortschritte mehr möglich. Nach demselben Muster spielte es sich überall in Lateinamerika ab. Die Politiker verrieten diejenigen Bewegungen, welche sie zuvor ins Amt gebracht hatten. Das ist ein gutes Argument dafür, eigenständig Kräfte aufzubauen, anstatt zu versuchen, wohlgesonnenen Politikern ins Amt zu verhelfen – denn sobald diese erst einmal im Amt sind, müssen sie nach der Logik ihres Postens handeln, nicht nach derjenigen der Bewegung.
Syriza kam an die Macht, indem die Partei aggressiv um Wählerstimmen warb und ihre Forderungen verwässerte. Repräsentative Demokratie tendiert dazu, Politik zu einer Angelegenheit des kleinsten gemeinsamen Nenners zu reduzieren, da Parteien um Wählerstimmen und Koalitionen rangeln. So war auch Syrizas erste Amtshandlung, eine Koalition mit den rechten Unabhängigen Griechen einzugehen. Um diese Koalition aufrecht erhalten zu können, wird Syriza Zugeständnisse an die Ziele ihrer Partner machen müssen. Das wird erstens bedeuten, ungewollte rechte Politik bei der eigenen Mitgliedschaft durchzusetzen – und diese dann allen anderen aufzudrängen. Es gibt keinen Weg an der wesentlich unterdrückerischen Natur allen Regierens vorbei.
Zahlreiche Anarchisten hoffen, Syriza werde der staatlichen Repression sozialer Bewegungen Einhalt gebieten und ihnen dadurch die Möglichkeit geben, sich freier zu entwickeln. Unterstützte Syriza nicht von Grund auf die Aufstände von 2008? Damals waren sie jedoch eine kleine Partei auf der Suche nach Verbündeten; nun stellen sie die herrschende Elite. Um an der Macht zu bleiben, müssen sie zeigen, dass sie bereit sind, die Herrschaft des Gesetzes durchzusetzen. Auch wenn sie vielleicht kleinere Proteste nicht so aggressiv verfolgen werden, wie es eine rechte Regierung täte, werden sie Aktivisten in legitime und illegitime aufteilen müssen – ein Vorgehen aus dem Handbuch der Aufstandsbekämpfung, an dem sich Regierungen und Besatzungsarmeen weltweit orientieren. Das wäre nichts Neues für Griechenland; genau das passierte unter den Sozialdemokraten der PASOK in den frühen 1980ern. Selbst wenn Syriza die vorherige Intensität der Repression nicht aufrechtzuerhalten sucht, ihre Funktion wird sein, die Bewegungen zu spalten, die Fügsamen zu assimilieren und den Rest zu marginalisieren. Das könnte sich als wirksamere repressive Strategie herausstellen als der Einsatz roher Gewalt.
Unter diesen neuen Voraussetzungen werden sich die Bewegungen selbst verändern. Syriza ist schon an vielen sozialen Graswurzelprogrammen beteiligt; sie werden wohl den kooperativsten unter ihnen mehr Ressourcen anbieten, allerdings nur unter Einflussnahme des Staates. Es wird immer schwerer für Graswurzelaktivisten werden, wirklich autonom zu bleiben und den Unterschied zwischen Selbstorganisation und Management von oben aufzuzeigen. Ähnliches ist schon im gemeinnützigen Sektor der USA passiert, mit verheerender Wirkung. Wir können hier auch auf den Regierungseinfluss auf angeblich selbstorganisierte Nachbarschaftshilfe im Venezuela unter Hugo Chavez verweisen.
Diese Art der Einverleibung in die Logik des Staates ist Parteien wie Syriza wesentlich. Sie brauchen Bewegungen, die wissen, wie man sich benimmt und die ohne zuviel Aufhebens dazu herhalten können, parlamentarische Entscheidungen zu legitimieren. In der Tat hat von 2012 an die bloße Aussicht auf die Machtergreifung Syrizas die Straßen Griechenlands weitgehend von Protesten frei gehalten und dadurch das Risiko für Anarchisten und andere, die weiterhin demonstrierten, erhöht. Parteien wie Syriza können die Öffentlichkeit also befrieden, ohne auch nur ins Amt zu gelangen.
Was passiert nun mit dem Rest der Bewegung, mit denen, die weiterhin Ihre Autonomie aufrechterhalten und versuchen, ihre eigene Macht nach ihren eigenen Regeln außerhalb der Institutionen aufzubauen? Das ist die Frage, die sich uns stellt.

Wo Syriza versagt, wird der Faschismus wachsen.

Internationalem Druck, einer gespaltenen Wählerschaft und dem strukturellen Verhältnis zwischen Staat und Kapital gegenüberstehend, kann Syriza nicht darauf hoffen, die alltäglichen Probleme zu lösen, die sich den meisten Griechen als Ergebnis eines ungezügelten Kapitalismus stellen. Langfristig könnte das Tür und Tor für die einzige Regierungsform öffnen, die Griechenland noch nicht ausprobiert hat: den Faschismus.
Eine gewinnorientierte Wirtschaftsordnung konzentriert Reichtum unweigerlich in den Händen immer weniger Menschen. In einer globalisierten Welt verschreckt jedes Land Investoren, wenn es versucht, diesen Prozess umzukehren. Daran liegt es auch, dass heute die sozialdemokratische Infrastruktur sogar in den reichsten Ländern unter Beschuss gerät, indem Marktmechanismen auf Kosten der gewöhnlichen Bevölkerung am Laufen gehalten werden. Dieses Problem könnte mit der revolutionären Abschaffung des Privateigentums und des dieses beschützenden Staates gelöst werden. Für für die gleichzeitige Aufrechterhaltung der sozialdemokratischen Infrastruktur und des Kapitalismus gibt es allerdings nur einen Weg: die zahlenmäßige Begrenzung derjenigen, die von ihr profitieren. Diesen Zweck verfolgt das Essensverteilungsprogramms, das die Partei Goldene Morgenröte „nur für Griechen“ organisiert. So gesehen, haben nationalistische und faschistische Parteien einen realistischeren Plan, um das soziale Netz für die weiße Mittelklasse aufrechtzuerhalten als die üblichen sozialistischen Parteien.
Aus diesem Grund ist es für Parteien wie Syriza so gefährlich, wenn sie der Idee Nachdruck verleihen, die Probleme des Kapitalismus ließen sich mit sozialpolitischen Maßnahmen lösen. Lösen sie ihre Versprechen nicht ein, werden sich einige von denen, die an diese geglaubt haben, rechtsradikalen Parteien zuwenden, die vorgeben, über einen pragmatischeren Ansatz zum Erreichen derselben Ziele zu verfügen. Das passiert schon jetzt in ganz Europa. In Schweden, dem Aushängeschild der Sozialdemokratie, wurde die Aufrechterhaltung staatlicher Sozialpolitik jahrzehntelang durch linke Agitation propagiert. Dies ebnete dann der Forderung der Faschisten den Weg, die Grenzen schließen zu müssen, um diese Programme beibehalten zu können.
Aber Faschisten brauchen nicht erst an die Macht zu kommen, um gefährlich zu werden. Gefährlich sind sie schon deshalb, weil sie, genau wie Anarchisten, ihre Ziele auch direkt verfolgen können, ohne der Hilfe des Staatsapparates zu bedürfen. Wir könnten tatsächlich in eine Ära eintreten, in der es eine Vielzahl politischer Akteure zielführender findet, sich außerhalb der Regierung zu positionieren, anstatt sich mit ihr diskreditieren zu lassen. Jetzt, da der Staat nicht länger die Auswirkungen des Kapitalismus abmildern kann, werden die Menschen zwangsläufig immer desillusionierter und rebellischer werden. Wo immer linke Parteien die Staatsmacht innehaben und versuchen, ihre ehemaligen Kameraden zu beschwichtigen, die immer noch auf die Straße gehen, wird es für rechtsextreme Gruppen immer einfacher, sich als die wirklichen Widerstandskämpfer zu präsentieren – wie beispielsweise in Venezuela. Mit Sicherheit werden die Aufstände der letzten Jahrzehnte anhalten, es fragt sich nur, in welcher Art und Weise. Werden sie die Menschen mit ihren Kollektivkräften vereinen und die endgültige Abschaffung des Kapitalismus einleiten oder werden sie eher dem gleichen, was letztes Jahr in der Ukraine geschehen ist?
Angesichts der europaweiten Erstarkung antiislamischer Hysterie und nationalistischer Bewegungen wie der deutschen PEGIDA ist Faschismus nicht nur eine zukünftige Bedrohung, sondern eine deutliche und akute Gefahr. Es den Regierungen zu überlassen, der faschistischen Bedrohung mit rechtsstaatlichen Mitteln zu begegnen, ist in zweifacher Hinsicht gefährlich: Es ersetzt die Handlungsfähigkeit von Basisbewegungen mit der Vermittlung durch Autoritäten, und – noch einmal – es legitimiert staatliche Institutionen, die in die Hände von Faschisten fallen könnten. Einige mögen Syriza als ein Bollwerk gegen den Faschismus sehen, aber nur autonome Bewegungen können ihn besiegen und zwar nicht nur durch reaktive Bekämpfung, sondern vor allem durch das Aufzeigen einer verlockenderen Vision gesellschaftlichen Wandels.

Härter kämpfen, mehr wollen

Wenn Syrizas Sieg dazu führt, diejenigen, die einst auf der Straße zusammenkamen, wieder in der Rolle des Zuschauers und der Vereinzelung einzulullen, wird sich das Zeitfenster wieder schließen, das während der Aufstände Möglichkeiten zu Veränderung eröffnet hatte. Das würde Syriza selbst überflüssig machen und eine Blaupause dafür liefern, wie man gesellschaftliche Bewegungen überall in der Welt befrieden kann. Syriza spielt mit dem Feuer, verspricht Lösungen, die die Partei nicht umsetzen kann. Wenngleich ihr Fehlschlag dem Faschismus die Tür öffnen könnte, so könnte er auch eine neue Phase von Bewegungen jenseits und gegen jegliche Autorität hervorbringen.
Um das möglich zu machen, müssen sich Anarchisten in Griechenland und überall in der Welt von allen politischen Parteien unterscheiden und die Allgemeinheit dazu einladen, sich ihnen in Räumen jenseits des Einflusses selbst der großherzigsten Sozialdemokraten anzuschließen. Dazu gehört es, sich von den opportunistischen Politikern abzuwenden, die sich ihnen einst auf der Straße angeschlossen hatten. Das wird nicht einfach sein, ist aber der einzige Weg. Wenn es auch das Einzige ist, so sind jetzt, wo die Wahl vorbei ist und Syriza sich auf der anderen Seite des Machtwalls befindet, wenigstens die Grenzlinien klar.
Den Kapitalismus und den Staat abzuschaffen, ist für die meisten Leute immer noch undenkbar. Allerdings sind – wie Griechenland erfahren musste – die Maßnahmen, die den Kapitalismus für die nächste Generation stabilisieren könnten, noch undenkbarer. In der alltäglichen Praxis der griechischen Anarchisten – dem Besetzen von Sozialzentren und Universitätsgebäuden, den Selbstverteidigungspatrouillen gegen die Goldene Morgenröte, den Sozialprogrammen und Versammlungen – können wir die ersten Schritte hin zu einer Welt ohne Eigentum und Regierung sehen. Wenn diese Praktiken 2012 in eine Sackgasse führten, so lag dies auch daran, dass so viele Menschen, in Hoffnung auf einen Wahlsieg Syrizas, die Straßen wieder aufgaben. Und doch sind genau das die Beispiele, an denen man sich ein Vorbild nehmen muss – und nicht das Modell Syriza. Lasst uns damit aufhören, mit falschen Lösungsansätzen die Zeit zu verspielen.

CrimethInc. Interview zu Baltimore

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Veröffentlicht von der magazinredaktion, dort auch als Einzeltexte und PDF verfügbar.

Dieses Interview wurde der griechischen anarchistischen Zeitschrift Apatris gegeben.

Hier sind die Antworten auf eure Fragen – schnell niedergekritzelt, während gleichzeitig auch sonst viel los ist. Ich hoffe, sie bringen euch was! Wir hoffen, dass wir bald ein paar Artikel über die Vorkommnisse in Baltimore auf www.crimethinc.com veröffentlichen können. Bis dahin sei hier schon mal auf einen Text verwiesen, der einen guten Überblick über die allgemeine Situation mit der Polizei in den USA bietet: Die dünne blaue Schnur ist eine Zündschnur. Warum jetzt jeder Kampf ein Kampf gegen die Polizei ist.

Eine Bemerkung vorweg: Obwohl unser Kollektiv aus Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen besteht und wir unsere Ideen in einem fortlaufenden Dialog formulieren, ist es wichtig, zu betonen, dass die hier vorliegenden Antworten aus der Perspektive von hauptsächlich weißen Anarchisten geschrieben wurden, die zwar auch in diesen Kämpfen aktiv sind, dort aber keine zentrale Rolle einnehmen. In Ferguson waren einige der ersten Weißen, die sich an den Konflikten mit der Polizei beteiligten, Anarchist_innen. Wir nahmen aber eine etwas seltsame Rolle ein und befanden uns oft eher außerhalb der rebellierenden Gemeinschaften. Außerdem profitierten wir in gewissem Maße von rassistischen Privilegien, selbst dann, wenn wir von den Autoritäten (und leichtgläubigen, paternalistischen Liberalen) für die Aufstände verantwortlich gemacht wurden. Unsere Perspektive auf die Ereignisse kann zwar nützlich für Anarchist_innen in anderen Ecken der Welt sein, aber sie ist definitiv nicht die einzige. Um ein umfassendes Verständnis der Ereignisse zu erlangen, ist es unerlässlich, Perspektiven von People of Color aus dem Zentrum dieser Kämpfe zu hören.

Wir bitten um eine kurze Schilderung der jüngsten Ereignisse in Baltimore, die durch den Polizeimord an Freddie Gray ausgelöst wurden.

Am 12. April wurde Freddie Gray, ohne eine Straftat begangen zu haben, festgenommen. Nach der Festnahme wurde er auf dem Weg ins Gefängnis verletzt und die ärztliche Versorgung wurde ihm verweigert. Am 19. April starb er an den Folgen dieser Verletzungen.

Am Samstag, 26. April, fand am Nachmittag eine gesetzestreue Protestkundgebung statt. Die Kundgebung endete mit einem Demonstrationszug, bei welchem einige Polizeifahrzeuge zerstört wurden und es zu Auseinandersetzungen mit betrunkenen rassistischen Sportfans kam. Die Polizei ließ die Gegend um die Proteste absperren, aber innerhalb der Absperrungen konnten die Demonstrierenden noch stundenlang ungehindert Sachbeschädigungen begehen. Das ist in den USA ziemlich selten.

Am Montag, 29. April, zirkulierte unter Schüler_innen eine Nachricht in den sozialen Netzwerken, in der zu einem ‘purge’ am gleichen Nachmittag in einem Einkaufszentrum in Baltimore aufgerufen wurde – ‘purge’ (Säuberung) ist eine Anspielung auf einen gleichnamigen Hollywood-Film, in welchem die Kontrollen und Gesetze außer Kraft gesetzt sind. In dem genannten Einkaufszentrum steigen sehr viele Jugendliche auf dem Schulweg um. In Baltimore gibt es keine Schulbusse, die Schüler benutzen die öffentlichen Verkehrsmittel. Vorbeugend ließ die Polizei das Einkaufzentrum schließen, überflutete die Straßen mit Beamten in Kampfausrüstung und ließ den öffentlichen Nahverkehr stilllegen – Busse wurden angehalten und die Fahrgäste zum Aussteigen gezwungen. In dieser angespannten Situation, aus der man auch nicht wegkam, begannen Jugendliche, Auseinandersetzungen mit der Polizei und kämpften dabei mit der mutigen Unbekümmertheit junger Leute auf der ganzen Welt. In mindestens einer Situation wurde beobachtet, wie Polizisten Steine zurück auf die Jugendlichen schmissen.

Bei Anbruch der Dunkelheit waren überall in der Stadt Unruhen, Krawalle und Feuer ausgebrochen, auch in einigen weißen Vierteln. Über hundert Autos wurden angezündet, viele davon Polizeifahrzeuge, und über 12 Gebäude brannten ab, am bekanntesten wurde der Brand einer Filiale der Drogeriekette CVS an der Ecke Penn Street / North Street. In den großen Medien gab es aus Helikoptern Live-Übertragungen von Plünderungen, bei denen die Nachrichtensprecher über den Verlust von Eigentum rumheulten und die Plünderer als Monster beschrieben.

Die Oberbürgermeisterin ließ den Notstand ausrufen und forderte Unterstützung von umliegenden Polizeieinheiten und der Nationalgarde an. Außerdem wurde eine siebentägige Ausgangssperre, die am Dienstag in Kraft treten sollte, verhängt. Das Gerichtssystem war mit der Anzahl der Festgenommen ziemlich überfordert, so wurden einige Festgenommene auch ohne Anzeige wieder freigelassen.

Am Dienstag, 29. April, herrschte eine angespannte Stimmung in der Stadt. In den öffentlichen Verkehrsmitteln prahlten Leute, was sie am Tag zuvor geplündert hatten – oftmals Güter für den ganz grundsätzlichen Lebensbedarf. Zeugen beschrieben die Stimmung in Baltimore mit dem Motto „Wir haben getan, was wir tun mussten“. Es gab Aufräume-Aktionen, die von Nachbarschaftsstrukturen organisiert wurden (ähnlich wie in London 2011), und es gab Friedenswächter, die weitere Krawalle und Unruhen verhindern sollten.

Da der Großteil der Bevölkerung Baltimores schwarz ist, muss betont werden, dass Menschen mit schwarzer Hautfarbe auf allen Ebenen bei und nach den Krawallen involviert waren – schwarze Politiker, schwarze Friedenswächter, schwarze Polizisten, schwarze Nachbarschafts-Aktivisten, schwarze Geschäftsinhaber, schwarze Randalierende.

Am Dienstag, als die Schulen geschlossen waren, bot Red Emma’s (das wichtigste anarchistische Projekt in Baltimore) eine Anlaufstelle für Jugendliche, die nicht in der Schule waren, und für obdachlose Jugendliche, deren Heim während der Krawalle zerstört worden war. In anderen Stadtteilen sammelten und verteilten Organisationen kostenlose Lebensmittel – dabei handelte es sich hauptsächlich um kirchliche Organisationen, die in der Politik Baltimores durchaus eine Rolle spielen, auch innerhalb des radikalen politischen Spektrums.

Die Kreuzung Penn Street / North Street, wo die CVS-Filiale niedergebrannt worden war, wurde zum Anlauf- und Treffpunkt für Protestierende, die Lust auf weitere Konfrontationen hatten – etwas ähnliches ist damals auch in Ferguson passiert, wo Protestierende sich an der in der ersten Nacht der Krawalle niedergebrannten, Supermarkt-Filiale von QuikTrip trafen. Die Ausgangssperre wurde ab 22 Uhr brutal durchgesetzt, wobei es wieder zu Straßenkämpfen mit der Polizei kam, jedoch nicht in dem selben Ausmaß wie am Montag.

Am Mittwoch, 30. April, riefen viele Gruppen zu Demonstrationen auf, obwohl aufgrund der Notstandsregelungen eigentlich alle öffentlichen Versammlungen untersagt waren. Trotzdem wurden alle Demonstrationen in letzter Minute genehmigt, was zeigt, welchen Druck die Protestierenden auf den Staat ausübten. Die Schlussdemonstration, von schwarzen und braunen Jugendlichen angeführt, bildete einen der größten Demozüge, den die Stadt seit langem gesehen hatte, obwohl sie von den nachfolgenden Demonstrationen am Freitag und Samstag sogar noch in den Schatten gestellt wurde. Der Demonstrationszug gab den Anweisungen der Polizei, nicht vor dem Rathaus zu bleiben, nach, kehrte zum Bahnhof (Penn Station) um und löste sich gegen 21 Uhr auf, damit Leute vor der Sperrstunde wieder nach Hause konnten. Nachts gab es wieder Krawalle an der Kreuzung Penn Street / North Street.

Für den ersten und zweiten Mai waren weitere Demonstrationen geplant, in der Annahme, dass auch Menschen aus umliegenden Städten kommen und sich neue Konfrontationen ergeben würden. Aber am Morgen des ersten Mai verkündete der Staatsanwalt Mosby, dass sechs Polizisten aufgrund des Todes von Freddie Gray angeklagt werden sollten, in einem Fall lautet die Anklage nun sogar auf Mord. Das ist in den USA ziemlich ungewöhnlich, wo jährlich hunderte von Menschen von der Polizei umgebracht werden, ohne dass dies im Normallfall irgendwelche Konsequenzen nach sich zöge.

Am ersten Mai gab es den ganzen Tag bis spät in die Nacht spontane, nicht angemeldete Demonstrationszüge. Die meisten Menschen versammelten sich in der Innenstadt am Rathaus und am McKeldin Square, der free speech zone, in welcher die Behörden für gewöhnlich die Protestierenden zu halten versuchen. Der Demonstrationszug bestand aus etwas 5.000 Menschen und ging über 11 Meilen. Während der Demo kamen ständig Leute hinzu, andere verließen die Demo wieder; manche Schätzungen gehen von 10.000 oder mehr Teilnehmern aus. Die Stimmung war fröhlich. Die Polizei war nicht zahlreich genug, um die Demonstrierenden aufhalten zu können, versperrte allerdings Zugänge zur Autobahn und stand schützend vor bestimmten Gebäuden. Im Gefängnisviertel stimmten Gefangene von innen in die Parolen mit ein, ihr Hauptslogan war „All night, all day, we will fight for Freddie Gray“ („Wir werden Tag und Nacht für Freddie Gray kämpfen“).

In West Baltimore stießen Lastwagen voll mit Menschen zur Demo hinzu. Die Demo bewegte sich zurück in die Innenstadt und löste sich zur Sperrstunde langsam auf. Am Rathaus blieben etwa 50 – 100 Leute auch nach der Ausgangssperre draußen und mindestens 13 wurden, meist brutal, festgenommen. Auch kam es nach der Sperrstunde wieder zu gewalttätigen Konfrontationen an der Kreuzung Penn Street / North Street.

Am Samstag, 2. Mai, kam es zu weiteren Demonstrationen. Zu dem Zeitpunkt verlagerte sich die Energie darauf, Amnestie für die Festgenommenen zu bewirken, denen schwere Anklagen drohten. Zum Beispiel wurde ein junger Mann, der das Fenster eines Polizeiautos eingeschmissen hatte und den daraufhin einer seiner Eltern überzeugen konnte, sich der Polizei zu stellen, gegen eine Kaution von 500.000 Dollar festgehalten.

Am Samstagabend kam es zur größten Mobilisierung gegen die Ausgangssperre. Eine größtenteils weiße Gruppe von Menschen kam in einer überwiegend weißen Gegend zusammen. Ein Großaufgebot der Polizei rückte an, machte dann aber nur Durchsage nach Durchsage mit der Aufforderung, die Versammlung aufzulösen, flehte die Teilnehmenden an, sich nicht festnehmen zu lassen. Die Menge willigte ein, sich zu zerstreuen, da die Mittel zur Unterstützung der Gefangenen ohnehin bereits knapp waren. Mehrfach wurde berichtet, dass die Polizei den Leuten sogar anbot, sie nach Hause zu fahren. Währenddessen wurden an der Kreuzung Penn Street / North Street vor allem schwarze Protestierende von Polizisten zusammengeschlagen, mit Pfefferspray angegriffen und festgenommen. Eine relativ große Anzahl an Sanitätern und Menschen aus Soligruppen für die Gefangenen wurden mit dem Vorwurf, die Ausgangssperre mißachtet zu haben, festgenommen.

Am Sonntag, 3. Mai, wurde die Ausgangssperre als Reaktion auf die Beschwerden von Geschäftsinhabern schon zwei Tage früher als angekündigt wieder aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Dinge in Baltimore bereits wieder beruhigt.

Wir hätten gerne ein Kommentar über den amerikanischen Kapitalismus und seine bis heute andauernde Unfähigkeit, die rassische Diskriminierung der Afroamerikaner zu überwinden.

Weiße Vormachtstellung und Kapitalismus waren von Anfang an strukturell miteinander verbunden. (Viele Leute in den Vereinigten Staaten sprechen lieber von „weißer Vormachtstellung“ als von „Rassismus“, um zu betonen, dass es ein strukturelles Problem ist und nicht nur eine Sache des individuellen Vorurteils.) Die Entwicklung des Kapitalismus ist nicht ohne die ursprüngliche Plünderung und Kolonialisierung der sogenannten „Neuen Welt“ (und dann Indiens und Afrikas) vorstellbar, der dann Sklaverei und später Rassentrennung folgten. Die Rassentrennung gibt es bis heute, wenn auch eher als ein wirtschaftliches Problem getarnt und nicht als eines der Rasse. Das Ergebnis ist allerdings gleich.

Auf jeder Stufe dieses Prozesses ist die Spaltung der armen Arbeiter und Marginalisierten in „Weiße“ und „Nicht-Weiße“ wesentlich gewesen, um die herrschende Ordnung aufrecht zu erhalten und zu stabilisieren, indem sie Weiße, die sich ansonsten mit allen anderen gegen die Elite verbünden würden, besticht, sich mit ihren viel reicheren Herrschern zu identifizieren. Die gesellschaftlich konstruierte Identität „Rasse“ und der auf dem gesellschaftlichen Konstrukt des Eigentums basierende Kapitalismus entstanden gemeinsam und unterstützen sich einander wechselseitig. Zwar kann man die Geschichte der Erfindung der Rasse in einem wirtschaftlichen Rahmen erzählen, allerdings wäre es genauso möglich, zu argumentieren, dass Kapitalismus die wirtschaftliche Folge der Erfindung der Rasse ist.

Darum wird keine kapitalistische Gesellschaft, weder die amerikanische noch sonst eine, die Rassendiskriminierung erfolgreich abschaffen.

Es gibt immer noch einige Teile der Welt, die homogen genug sind, um sich vorstellen zu können, dass der Kapitalismus auch ohne den stabilisierenden Mechanismus der Rasse bestehen kann. Aber in einer globalisierten Wirtschaft können diese Orte nicht von dem Geschehen anderswo getrennt werden – sie sind darin verwickelt, auch wenn es dort nicht passiert. Stellt euch zum Beispiel ein vollständig weißes Dorf in der Schweiz vor: Es scheint so, als ob Rasse mit dem Funktionieren des Kapitalismus dort nichts zu tun hat, aber in Wahrheit bezieht Bevölkerung wahrscheinlich ihren Wohlstand aus Investitionen in Unternehmen, die in Afrika Minen oder in Ostasien ausbeuterische Betriebe betreiben, während die Grenzen die Menschen aus diesen Teilen der Erde davon abhalten, das soziale Sicherheitsnetz zu nutzen, das den Schweizern angeboten wird. Das ist ein Beispiel, wie die sich als humanistisch ausgebende Sozialdemokratie dazu dient, die Rassenhierarchie und -unterdrückung zu rationalisieren.

„Ruhig atmen. Brich kein Gesetz“ war die umstrittene Antwort der Polizei auf „Ich hab keine Luft zum Atmen.“ Könnt ihr die Verbindung zwischen Polizei und Gesellschaft in den USA kommentieren?

Die Vereinigten Staaten sind eine stark kontrollierte Gesellschaft, mit 2,5 Millionen im Gefängnis oder in Haft. Das ist für die Aufrechterhaltung des unglaublichen Ungleichgewichts des Reichtums in diesem Land notwendig, das sonst durch selbstständige Aktionen – von den Parteigängern der Ungleichheit „Verbrechen“ genannt – wieder ausgeglichen würde. Und nochmal: Diese ganze Kontrolle würde deutlich mehr Rebellion in der Bevölkerung hervorrufen, wenn diese nicht durch rassische Grenzen geteilt wäre. Einer der Mythen für arme Weiße, die verhindern sollen, daß sie die Polizei ablehnen, lautet, die Polizei sei dazu da, sie vor armen Farbigen zu „schützen“.

In diesem Zusammenhang werden Leute oft für die Gewalt verantwortlich gemacht, die die Polizei ihnen antut. Aber Freddie Gray hat nicht einmal ein Verbrechen begangen – es kann also keine Lösung sein, gesetzestreuer zu werden. Tatsächlich richten sich die US-Gesetze manchmal gegen alles, was arme Menschen machen: Wenn sie zum Beispiel an Straßenecken zusammen Zeit verbringen, wird „Herumlungern“ ein Verbrechen.

Gibt es immer noch den „rassistischen Süden“, der sich wesentlich vom rassisch stärker integrierten Norden unterscheidet?

Tatsächlich liegen weder Baltimore noch Ferguson im Süden, auch wenn beide Städte in Regionen liegen, in denen die Weißen vor dem nordamerikanischen Bürgerkrieg die Sklaverei befürworteten. Es gab viele komplizierte Wanderbewegungen zwischen dem Süden und dem Rest der Vereinigten Staaten – aber Rassismus an sich ist weitverbreitet. Denkt daran, dass dieses ganze Land auf dem Völkermord an den Leuten gründet, die hier vor der europäischen Kolonialisierung lebten. Es gibt in den Vereinigten Staaten keine einzige Stadt, die keine rassistische Geschichte hat.

Vielleicht gab es vor 150 Jahren eine Zeit, in der weiße Leute aus dem Norden sich dazu beglückwünschen konnten, nicht rassistisch zu sein, da ihre Wirtschaft auf industrieller Lohnarbeit beruhte und weniger auf Sklaverei – und weil nicht so viele Schwarze dort lebten. Aber seither, indem die Schwarzen die Ghettos der Städte überall im Land füllten, wurde es klarer, dass Rassismus etwas Strukturelles ist, das in das Gerichtssystem und die Wirtschaft selbst eingebaut ist. Genauso rühmten sich vor einer Generation einige Schweden, nicht rassistisch zu sein, bis mehr Migranten ankamen und daraufhin die rassistische, nationalistische Partei dort solche Erfolge hatte.

Auch wenn heute die Mittelklasse der Vereinigten Staaten rassisch integrierter ist als vor hundert Jahren, gibt es immer noch große Bevölkerungsanteile schwarzer und armer Leute, die von fast allen Aspekten der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Überall im Land, von New York bis nach Seattle, sind die von der Polizei Eingesperrten und Getöteten disproportional schwarz oder braun.

Was sind die zu erwartenden Folgen und Aussichten in Ferguson, Baltimore und anderswo? Entsteht da eine Bewegung oder verändert sich die Gesellschaft? Wie erklärt ihr den Umstand, dass Hinrichtungen von unbewaffneten Afroamerikanern fortwährend weiter passieren?

Um es noch einmal zu wiederholen,: Das unglaubliche Ungleichgewicht von Reichtum und Macht in den Vereinigten Staaten könnte nicht ohne konstante Polizeigewalt aufrechterhalten werden. Polizeibeamten muss es erlaubt sein, in jedem Moment einen Mord zu begehen, sonst würde die Polizeiarbeit ein sehr gefährlicher Job sein, da so viele Leute bewaffnet und verzweifelt sind. Die Polizei in der Gegend von St. Louis (in der Ferguson liegt) verfolgte nach den Protesten dort im August und November weiter ihr Muster, etwa jeden Monat jemanden zu töten, und die Polizei von Baltimore wird sicher genauso darin fortfahren, Menschen zu töten, selbst wenn sie mehr Angst vor möglichen Konsequenzen haben. Um die durch die Polizei begangenen Morde zu beendigen, müssen wir die Kontrollen durch die Polizei selbst beenden.

Tatsächlich war das bislang einzige Mittel, die Polizeigewalt zu vermindern, dass die Polizei letzten Dezember in New York City in eine Art inoffiziellen Streik getreten ist, nachdem ein Mann zwei Polizeibeamte erschossen hatte. So hörten die sinnlosen Festnahmen auf, die die Regierung von New York genauso wie jede andere Stadt in den USA als Einnahmequelle braucht. Das klingt wie eine gute Sache, aber es ist genauso beunruhigend: Die Polizei protestierte für mehr und bedingungslose Unterstützung von ihrer Regierung, damit die Polizisten das, was sie tun, ohne jede Kritik tun können. So, wie sich die Situation entwickelt, kann man tatsächlich beobachten, dass die Polizei – und die Untergruppe der hauptsächlich weißen Mittelklasse Amerikas, aus der die meisten Polizeibeamten kommen – allmählich ihre Interessen unabhängig vom Rest der Staatsstrukturen begreift und als Antwort auf diese Aufstände offener rassistisch und konfrontativer wird. Das könnte der Beginn eines neuen Schwungs des weißen Nationalismus oder Faschismus in den USA werden. Passierte nicht in Griechenland etwas ähnliches, als zahlreiche Polizeibeamte sich der Goldenen Morgenröte anschlossen?

Unterdessen erschien in Ferguson letzten August eine mächtige gesellschaftliche Bewegung, die sich seither über die gesamten USA ausgebreitet hat. Diese Bewegung hat viel Potential, die politische Situation in den Vereinigten Staaten zu destabilisieren, was eine gute Sache ist. Aber es gibt auch viele innere Konflikte und Widersprüche. Von den radikalsten Teilnehmern – die, deren mutige illegale Aktionen der Bewegung einen Großteil ihrer Stärke und Hebelkraft gaben – hören wir in der öffentlichen Diskussion am wenigsten. Diese Protestler, die die Polizei bekämpften und Gebäude und Autos niederbrannten, zeigten, dass sie Gehorsam und Reformismus zurückweisen, und demonstrierten eine radikalere Praxis als die meisten aufständischen Anarchisten in den USA. Aber in den öffentlichen Diskussionen hören wir meistens von den „Anführern“, die solche Taktiken nicht mögen (auch wenn diese Taktiken die Bewegung erst erzeugt haben), und die versuchen, den Protest auf gesetzestreue Aktionen zu beschränken oder auf kontrollierte Akte des zivilen Ungehorsams. Natürlich gibt es nicht immer eine klare Abgrenzung zwischen Leuten, die sich an militanten Konfrontationen beteiligen, und anderen, die andere Formen des Protestes praktizieren, und beide profitieren ja voneinander auch vielfältig.

Einige der Widersprüche der Bewegung kann man an dem Namen ablesen, der ihr verliehen worden ist: „Black Lives Matter“ (Schwarze Leben zählen). Wie einige schwarze Radikale herausgestrichen haben, gibt es mit diesem Slogan einige Probleme. Er scheint sich an die Machthaber zu richten, an diejenigen, für die in Wahrheit das Leben von Schwarzen keine Rolle spielt. Der afro-pessimistische Autor Frank Wilderson schrieb, das diese Phrase nur Sinn ergibt, wenn man sie umgekehrt versteht: Leben, die als „schwarz“ rassifiziert werden, sind Leben, die per Definition in dieser Gesellschaft nicht zählen. In dieser Situation das „Schwarzsein“ zu affirmieren, heißt, sich mit der Rolle zu identifizieren, die den Schwarzen aufgezwungen wird, während wir in Wirklichkeit versuchen sollten, diese Rollen zu zerstören, zusammen mit der ganzen Gesellschaft, die sie erzwingt.

Die Bewegung „Black Lives Matter“ zu nennen, nahm auch den Fokus von der Bekämpfung der Polizei weg. Dieser Slogan konnte vor dem Dezember im ganzen Land keine Hegemonie erreichen. Bis dahin haben einige Leute die Bewegung eher mit Slogans wie „Fuck the Police“ in Verbindung gebracht. Vielleicht war die Bezeichnung „Black Lives Matter“ ein Weg, potentiell unregierbare Kräfte in eine verständliche Forderung zu kanalisieren, die (sogar militant) eher durch Reformen als durch Aufstand umgesetzt werden kann. Wie dem auch sei, weder „Fuck the police“ noch „Black Lives Matter“ erzählen die ganze Geschichte dieser Bewegung: Erstere verschweigt Rasse, während die andere die Staatsgewalt verschweigt, die die Rasse erschuf und weiter aufzwingt.

Sicherheit als Ware. Inwieweit bestimmt die Sicherheitsindustrie – die die Polizei und andere Sicherheitsfirmen versorgt, von Blackwater bis hin zu großen Waffenhändlern – die politischen Entscheidungen? Was ist deren Rolle in den jüngsten Ereignissen? Gibt es einen Teil der Finanzelite, der von dieser sozialen Spaltung profitiert?

Eine der Stärken des Kapitalismus ist, dass jede Krise, selbst diejenigen, die anscheinend dieses System bedrohen, eine Möglichkeit bietet, Profit zu machen und damit dieses System wieder zu stärken. Das American Legislative Exchange Council (ALEC) ist ein Beispiel dafür, wie Firmen, die vom industiellen Gefängniskomplex profitieren, es geschafft haben, Gesetze durchzubringen, die ihre Gewinne steigern. Es gibt ähnliche Beispiele im Zusammenhang mit der privaten Sicherheitsindustrie und der Waffentechnik, die von den Polizeidezernaten gekauft wird.

Aber ich glaube nicht, dass irgendein Teil der finanziellen Elite wirklich von dieser Protestwelle profitiert. Diese Situation zwingt sie lediglich dazu, die Waffen zu benutzen, die sie ohnehin schon gekauft haben – und ihr System ist stärker und stabiler, wenn sie diese nicht benutzen müssen. Einen offenen Kampf gegen Teile der Bevölkerung führen zu müssen, steigert die Instabilität der gesamten Gesellschaft. Und das wiederum ist nicht gut für das Geschäft. Manche Geschäftsleute werden aus jeder Krise einen Nutzen ziehen, bis zu dem Moment, wo wir sie mit den Gedärmen der letzten Politiker aufhängen. Aber das bedeutet nicht, dass solche Krisen generell dem Kapitalismus dienlich sind oder dass sie Verschwörungen der herrschenden Elite sind (wie einige rechte Verschwörungstheoretiker schon behaupten).

Funktioniert das amerikanische Justizsystem nach rassischen Kriterien? Wie stark und und warum?

Unter den Leuten, die von der Polizei ins Visier genommen, von Gerichten verurteilt und eingesperrt werden, sind unverhältnismäßig viele Schwarze oder Braune, verglichen mit der gesamten Bevölkerung der USA. Es gibt viele Gründe dafür. Gegenwärtig sind die Gesetze, juristischen Strukturen und die Verhaltensregeln der Polizei, die diese Situation erzeugen, nicht mehr explizit rassistisch. Aber ihr Zweck ist immer noch, rassistische Ergebnisse zu produzieren. Bücher wie „The New Jim Crow“ beschreiben im Detail, wie das funktioniert. Die Konstruktion und Durchsetzung von Rassenunterschieden, die in den ersten 400 Jahren europäischer Kolonisation Nordamerikas formell vollzogen wurde, funktioniert inzwischen informell.

Was ist die Rolle von bewaffneten Gangs in den Aufständen, etwa in Ferguson und Baltimore?

Das ist kompliziert und hängt davon ab, was mit dem Begriff „Gang“ gemeint ist. Es gibt große Gruppierungen in den USA, landesweite (oder sogar internationale) Gesellschaften, die in großflächige illegale kapitalistische Geschäfte verwickelt sind. Das gleiche Ringen zwischen horizontaler und hierarchischer Macht, das innerhalb der restlichen Gesellschaft passiert, findet auch im Bereich illegaler Aktivitäten statt.

Ein Waffenstillstand zwischen verschiedenen Gangs in Los Angeles 1992 war wesentlich, um eine Umgebung zu schaffen, in der Leute sich zum Protest erheben konnten, nachdem Rodney King verprügelt worden war. Waffenstillstände zwischen Gangs sind immer noch sehr wichtig, um Bedingungen herbeizuführen, in denen arme Menschen gegen die Polizei kämpfen können, anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen.

In Ferguson brachten einige Protestierende Waffen mit zu den Kämpfen, schossen auf Polizisten (manchmal trafen sie dabei auch andere Demonstranten). Manche Demonstranten gehörten Gangs an, aber die Gangs selbst waren nicht großflächig involviert, wie es zum Beispiel bei der Gruppierung Primeiro Comando da Capital (PCC) in Brasilien der Fall ist.

In Baltimore erklärten Mitglieder der „Nation of Islam“ (einer schwarz-nationalistisch-islamischen Sekte) am selben Tag, an dem die ersten gewalttätigen Demonstrationen stattfanden, dass sie einen Waffenstillstand zwischen den Bloods und den Crips, den beiden größten Gangs in Amerika, arrangiert hätten. Im Gegenzug veröffentliche die Polizei eine Pressemitteilung, in der sie behauptete, dass diese Gangs einen Waffenstillstand geschlossen hätten, um gewaltsam gegen die Polizei vorzugehen. Das war offensichtlich Propaganda. Mitglieder der Bloods und Crips tauchten dann in den Medien auf und erläuterten, dass in der Tat ein Waffenstillstandsabkommen bestünde, sie aber nichts mit den Randalen zu tun hätten. Manche sagten sogar, dass sie versuchten, Frieden in Baltimore zu schaffen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Es ist schwierig, das von außen zu bewerten. Vielleicht war es einfach der Versuch, die Medien davon abzuhalten, ein schlechtes Bild zu kreieren, und es spiegelt nicht ihre tatsächliche Verwicklung in die Aufstände wieder. [Wir Anarchisten wissen: Die Polizei, wenn sie versucht, ein schlechtes Image von jemandem in den Medien zu erzeugen, arrangiert die Situation so, dass es einfacher wird, ihn ins Fadenkreuz zu nehmen.] Vielleicht positionieren sich hochrangigere Mitglieder der Gangs nicht zu den Aufständen, aber Leute weiter unten in der Hierarchie nehmen daran teil. Oder vielleicht sehen die Gangs die Randale wirklich als etwas, was man unter Kontrolle bringen muss. Manchmal scheint es in solchen Situationen, dass jede formelle Organisation, selbst die radikalsten Gruppen, gegen das sind, was da passiert, und nur Leute, die unabhängig als freie Individuen teilnehmen, treiben die Aufstände voran.

Wie stellen die US-Medien diese Geschehnisse dar?

Es gibt zwei grundlegende Reaktionen auf die Aufstände von Baltimore. Die meisten öffentlichen Medien stellen die Ausschreitungen als schreckliche Tragödien dar und beschreiben die Teilnehmer, als wären sie Tiere, die man unter Kontrolle bringen müsse. Wie schon oben beschrieben, wurde während der Randale live Material gesendet, aufgenommen von Helikoptern, die auf die Leute verständnislos herabschauten und von ihnen sagten, dass sie „ihre eigene Nachbarschaft abfackelten“. Dabei nehmen sie die Perspektive des Staates ein – die gleiche Perspektive, wie sie Drohnen in Pakistan haben.

In der Zwischenzeit haben einige der linksliberalen Medien „kühne“ Leitartikel veröffentlicht, in denen die Aufstände als ein Akt der Verzweiflung erklärt werden, und sogar Gründe dafür anführten, weshalb diese Leute ihre Gewaltfreiheit aufgegeben hätten. Das kennzeichnet einen neuen Grad der Akzeptanz militanter Taktiken, den wir seit Jahrzehnten in den USA so nicht gesehen haben. Dennoch, all diese Artikel behandeln das Thema als etwas, dass sich auf arme schwarze Bevölkerungsschichten beschränkt – sie implizieren, dass wir ihre Taten aus sicherer Entfernung akzeptieren, sicherlich aber nicht selbst an solcherlei konfrontativen Kämpfen teilnehmen werden. Selbst einige anarchistische Gruppen haben in dieser Art und Weise auf die Ausschreitungen geantwortet. Wir denken, es ist eine gefährliche und unethische Vorstellung, gerade die angreifbarsten Personen innerhalb der Bevölkerung diese Risiken übernehmen zu lassen. Wenn es für sie Sinn macht, sich an diesem Aufstand zu beteiligen, dann für uns sogar noch mehr.

Inwieweit ist die Bewegung für die Rechte von Afro-Amerikanern in den amerikanischen Kapitalismus und seine vielseitigen Erscheinungen und Strukturen integriert (von Afro-Amerikanischen Parteien bis hin zu NGOs) und hat folglich die Vorstellung, Gerechtigkeit müßte innerhalb der Grenzen eines funktionierenden Kapitalismus gewährt werden?

In den Bürgerrechts- und Black Power Bewegungen der 1950er und 1960er Jahren gab es einige, die sich weißer und kapitalistischer Vorherrschaft komplett entziehen wollten, während andere schwarze Organisatoren für mehr Inklusion in diesen Strukturen kämpften. Diese Bewegungen fanden zu einer Zeit des relativen Überflusses und wirtschaftlichen Wachstums statt, als die US Regierung es sich leisten konnte, diese Gesellschaft dadurch zu stabilisieren, Schwarze und andere Farbige stärker in mehr Bereiche des politischen und wirtschaftlichen Lebens zu integrieren. Selbst diese Zugeständnisse hatten ihren Preis: Einer Minderheit von Schwarzen wurde der Zugang zu einem Leben der Mittelklasse gewährt, während militante Organisatoren und die Mehrheit der schwarzen Communities schonungslos durch unterschiedliche Formen staatlicher Repression zerstört wurden. Heute sind die Anführer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung erfolgreiche Politiker, während Mitglieder der Black Panther immer noch lebenslängliche Haftstrafen in den Gefängnissen absitzen und die Communities, die in den 1960er Jahren aufbegehrt hatten, durch Armut, Drogen und Polizeirepression zerstört sind. Bei den Ausschreitungen in Baltimore letzte Woche sahen wir deshalb so viele junge Leute teilnehmen, weil die Rebellen der älteren Generation, die sich nicht durch Machtpositionen kooptieren liessen, schon eingesperrt oder getötet wurden.

Jetzt, wo wir uns in einer Zeit der Krise und Austerität befinden, in der es generell nicht mehr möglich ist, Zugeständnisse zu machen, ist es schwer vorstellbar, dass es gelingt, mit der schwarzen Unterschicht einen neuen Kompromiss zu schließen. Viele haben sich das von Obamas Präsidentschaft erhofft, aber nun, da klar ist, dass die Dinge schlechter werden, gibt es eine Menge Enttäuschung und Wut.

Im Gegensatz zu Ferguson stellen wir in Baltimore fest, dass sowohl die Polizei als auch die Wohlhabenden großteils aus Afroamerikanern bestehen. Wie stark beeinflusst diese Tatsache die Natur der jüngsten sozialen Zusammenstöße?

Das ist ein wichtiger Punkt, der bisher nicht komplett analysiert ist. Wir können jedoch schon einmal sagen, dies zeigt, dass rassistische Dynamiken sogar von schwarzen Politikern und Polizisten aufrechterhalten und auferlegt werden können – die typische amerikanische Strategie, „Möglichkeiten“ für die Produktivsten oder Glücklichsten anzubieten, bringt dem Rest nichts. Es ist auch möglich, dass die Aufstände schneller unterdrückt wurden, weil es Leute in den revoltierenden Communities gibt, die ihnen Versprechungen machen. Wir werden sehen, was passiert, wenn diese Versprechen nicht eingehalten werden können.

Wie sieht es mit anderen Minderheiten in den USA aus, die Opfer rassistischer Diskriminierung durch den Staat und die Polizei sind, z.B. Menschen aus Asien oder Südamerika?

Viele verschiedene Communities in den USA sind von Rassismus und Strukturen weißer Vorherrschaft betroffen. Wir haben in den letzten Jahren lateinamerikanische Migranten für stärkere Einbeziehung in die Gesellschaft kämpfen sehen, eine Art Wiederholung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in einer anderen Form und einem anderen Kontext. Es wird sich zeigen, ob sich diese kämpferischen Ansätze auf andere Communities ausbreiten.

Haben die letzten Kämpfe zur Ausbildung neuer Strukturen innerhalb der afroamerikanischen Communities geführt?

Ja. In Ferguson konnten wir einen großen Zulauf von Organisationen beobachten, die alle um die Aufmerksamkeit junger Schwarzer konkurriert haben, und – vielleicht vielversprechender – auch neue Organisationen, die aus der Jugend selbst entstanden sind. Ich denke nicht, dass irgendwelche von ihnen die Form von Versammlungen annehmen werden, wie es in Griechenland der Fall war – viele dieser Organisationen sind eher wie traditionelle Parteien oder NGOs aufgestellt.

Aber außerhalb dieser Bewegungen gibt es eine Menge neuer Dynamiken, am meisten verspricht die Ausbreitung von neuen Taktiken und kämpferischer Energie. Informelle Organisationsformen entstehen in diesen Communities im Kampf, davon sind einige nur in den erbittertsten Momenten des Aufruhrs sichtbar. Auf lange Sicht wird es eine der wichtigsten Fragen sein, ob traditionelle, formale Organisationen die Stoßrichtung der Bewegung vorgeben oder ob andere Beteiligte weiterhin zu einer neuen und kompromissloseren Gangart drängen.

Letztendlich verbreiten sich auch neue Ideen. Eine der radikalsten neuen Strömungen ist der „Afropessimismus“, veranschaulicht durch die Schriften von Saidiya Hartman und Frank Wilderson, eine Analyse, die die Idee zum Ausdruck bringt, dass es zur Beendigung der Unterdrückung und des Mordes Schwarzer nicht weniger als der Zerstörung unserer gesamten Gesellschaft bedarf…

Ok, Freunde, das ist alles, wofür wir die Zeit fanden, zu schreiben. Ich hoffe, es ist hilfreich. Bitte verbreitet es, an wen ihr wollt. Lasst uns an den Barrikaden treffen.

Demokratie heißt… Poster-Serie

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Wir stellen euch hier eine Reihe von Postern des CrimethInc. Kollektives zur freien Verfügung.
Die Originale finden sich auf crimethinc.com

Unsere Vorfahren überwanden Könige und Diktatoren, schafften aber nicht die Institutionen ab mit denen Könige und Diktatoren herrschten: sie demokratisierten sie. Wer auch immer diese Institutionen benutzt – sei es ein König, eine Präsidentin oder ein Gewählter – die Erfahrungen am unteren Ende sind grob die gleichen. Gesetze, Bürokratie und Polizei gab es vor der Demokratie; sie funktionieren in einer Demokratie genau wie in einer Diktatur. Der einzige Unterschied ist, dass, weil wir drüber abstimmen können wie sie angewendet werden sollten, von uns erwartet wird, sie als unsere zu erachten selbst wenn sie gegen uns verwendet werden.

Alle Poster in einer PDF runterladen

Demokratie heißt Gefängnisse

Diejenigen, die nicht die Autorität des Staates akzeptieren, müssen isoliert werden, sonst würde sich ihr Ungehorsam auf den Rest der Bevölkerung übertragen. Uns wird erzählt, Gefängnisse würden uns schützen, aber die einzige Konstante seit deren Erfindung ist, dass sie den Staat vor denen schützen, die ihn bedrohen könnten. Praktisch gesehen zerstören sie Gemeinschaften und fördern unsoziale Tendenzen; sie gefährden uns bloß – sogar die von uns, die nicht hinter Gittern sind.

Ohne Gefängnisse gäbe es Anarchie: Die Leute müssten ihre Konflikte direkt klären, anstatt nach den Autoritäten zu rufen, und es wäre nicht länger möglich die Ungleichheiten dieser Gesellschaft unter den Teppich zu kehren

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Demokratie heißt Polizei

Demokratie bedeutet nicht nur öffentliche Beteiligung bei Entscheidungen. Sie setzt voraus, dass alle Macht und Legitimität in einer entscheidungs-treffenden Struktur zusammengefasst ist und benötigt einen Weg, diese Entscheidungen durchzusetzen. So lange irgendjemand sich widersetzt, muss es bewaffnetes Personal geben, das reguliert, diszipliniert, kontrolliert.

Ohne Polizei gäbe es Anarchie: Menschen würden aufgrund ihrer eigenen Bedürfnisse handeln, nur Entscheidungen umsetzen, die ihren Wünschen entsprechen. Konflikte müssten dann zur gegenseitigen Befriedigung aller Beteiligten gelöst, und nicht von einer Gang mit Gewaltmonopol unterdrückt werden.

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Demokratie heißt Grenzen

Demokratie zieht Grenzen zwischen Teilnehmenden und Ausgeschlossenen, zwischen legitim und illegitim. Nur eine Gruppe von Männern durfte im antiken Athen wählen; die Gründerväter besaßen Sklaven. Staatsbürgerschaft impliziert eine Grenze zwischen eingebunden und ausgeschlossen und hält so viele Menschen ohne Papiere davon ab, an den Entscheidungen teilzunehmen, die ihr Leben bestimmen.

Die liberale Antwort ist, die Linien der Eingebundenen zu erweitern, Rechte und Privilegien zu stärken bis alle in ein riesiges demokratischen Projekt integriert sind. Aber so lange alle Macht durch einen Flaschenhals fließt, gibt es zwingend Ungleichheiten und Ausgeschlossene. Die Alternative wäre Anarchie: Die Abschaffung aller zentralen Machtstrukturen und aller implizierten Grenzen. Ohne Grenzen würden die Menschen aus freiem Willen zusammen leben und arbeiten, könnten sich frei zwischen Gemeinschaften ohne Top-Down Kontrolle bewegen.

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Demokratie heißt Überwachung

Demokratie setzt Transparenz voraus: ein Marktplatz der Ideen, auf dem Entscheidungen öffentlich getroffen werden. Natürlich werden in einer ungerechten Gesellschaft Leute durch Transparenz gefährdet – die Angestellte die gefeuert wird, weil sie die falsche Meinung äußert; der Immigrant der Deportation befürchtet – während die Mächtigen Transparenz vorgeben wenn sie Deals hinter geschlossenen Türen machen. In der Praxis ermächtigt politische Transparenz schlicht Geheimdienste dazu, die Bevölkerung auszuhorchen und Repression vorzubereiten, sobald Dissidenten außer Kontrolle geraten – und welche Regierung kann ihre Autorität ohne Geheimdienste aufrecht erhalten?

Ohne Überwachung gäbe es Anarchie: Die Leute würden sagen und tun woran sie wirklich glauben. Die Verteidiger_innen zentralisierter Macht fürchten nichts mehr als Privatsphäre – den Schutz von Geheimnissen – was sie als Verschwörung bezeichnen.

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Demokratie heißt Krieg

Demokratie bedeutet unaufhörlichen Wettkampf. So wie Unternehmen um Ressourcen im Markt wetteifern, kämpfen Regierungen und Politiker um Macht. Wenn Macht zentralisiert wird, müssen die Leute andere dominieren, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Die an der Spitze der Macht können sie nur beibehalten, indem sie andauernd Kriege führen, gegen ihre eigene Bevölkerung oder die anderer Länder: Die Nationalgarde wurde nach diesem Schema aus dem Irak zurückgebracht, um heimische Proteste zu unterdrücken.

Solange wir entfernt sind von unserem eigenen Potential, regiert werden anstatt frei zu handeln, repräsentiert werden anstatt aufgrund unserer eigenen Bedürfnisse zu handeln, versuchen wir uns gegenseitig zu dominieren als Substitution für Selbstverwirklichung. Die Alternative wäre Anarchie: eine Welt in der Menschen für sich selber kämpfen – nicht für Königreiche, Flaggen oder Götter – und in der Konflikte keine Unterdrückung bedeuten.

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Radio Interview zu ‚Alles verändern‘

Migrantische Arbeit

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Aus gegebenem Anlaß stellen wir euch hier einen Auszug zu Migrantischer Arbeit aus Work zur Verfügung:

Warum überqueren Menschen illegal Grenzen, um nach Arbeit zu suchen? Zeigt das nicht, dass die USA und die EU bessere Ökonomien als Mexiko oder Marokko haben? Haben sie nicht das Recht, diese gegen Eindringlinge zu verteidigen?
Das ist Unsinn – es ist alles dieselbe Ökonomie. Waren, Jobs und Profite überqueren mühelos Grenzen – diese werden hauptsächlich gegen Menschen eingesetzt, um diese besser ausbeuten zu können. Nicht nur die Grenzen, sondern auch die Nationen selbst sind willkürliche Konstrukte, genau wie die Bezeichnung »illegale_r Immigrant_in«. Gemeinsam legitimieren sie die Einteilung der Arbeiter_innen in verschiedene Kasten. Um dem Ganzen jedoch auf den Grund zu gehen, müssen wir ein paar Jahrhunderte zurückschauen.
Als die Konquistadoren das erste Mal Segel setzen, war ihre oberste Priorität, Ressourcen zu erschließen, mit welchen sie die Oberhand in den Machtkämpfen daheim erlangen konnten. Wo immer sie auf hierarchische Gesellschaften trafen, ersetzten sie die lokale herrschende Klasse durch sich selbst. Wo immer die Einheimischen schwerer zu beherrschen waren, verschleppten sie sie oder schlachteten sie ab. Die Teile der Erde mit der reichsten Biodiversität – die Tropen und Regenwälder – wurden wie Schatzgruben behandelt und geplündert. Bis heute gehören diese Regionen zu den ärmsten der Welt und zu den am meisten ausgebeuteten. Kühlere Regionen (in denen weniger zum Plündern war), wie Nordamerika, endeten als Auffangbecken für Europas Überbevölkerung. Schlussendlich wurden sie selbst zu wohlhabenden Nationen, da der Wohlstand eher dort blieb, als nach Europa zurückgesandt zu werden. Das galt selbst für Australien, das zunächst eine Gefängniskolonie war. Als die Empire der ursprünglichen Kolonist_innen auseinanderfielen, waren diese neuen Mächte in der perfekten Position um zu übernehmen.
So ist also die Geschichte von Fremden, die kommen, um lokale Ressourcen zu konsumieren und Geld aus der Ökonomie zu schaffen, eine Projektion: Es ist exakt das, was Kolonist_innen in den Heimatländern der heutigen Arbeitsmigrant_innen Jahrhunderte lang taten. Immer wenn ein westliches Unternehmen eine Außenstelle im Ausland eröffnet und die Profite nach Hause schickt, findet derselbe Prozess der Ausbeutung, der zwischen Arbeitgeber_innen und Arbeitenden auftritt, zwischen Nationen statt. Der Internationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank können sogenannte Entwicklungsländer in „Strukturanpassungsprogramme“ für Kredite zwingen, gerade weil diese Länder solange ausgebeutet wurden. Arbeitsmigration ist das unausweichliche Ergebnis dieser ungleichen »Entwicklung«. Dieses Phänomen ist nicht neu. Nach der Abschaffung der Sklaverei in den USA wurden zum Beispiel chinesische Migrant_innen geholt, um in der Baumwollindustrie zu arbeiten und das transkontinentale Schienennetz auszubauen. Rassistische Gesetze verwehrten ihnen Bürgerrechte und Landbesitz. Schlussendlich wurden Zehntausende von ihnen aus dem Land gedrängt, jedoch schnell durch mexikanische Arbeiter_innen ersetzt. Im folgendem Jahrhundert gab es abwechselnd Wellen der Einwanderung und Vertreibung von Mexikaner_innen. Sie wurden während der beiden Weltkriege als billige Arbeitskräfte in das Land geholt und in den dazwischenliegenden ökonomischen Krisen wieder vertrieben. Die Grenzkontrolle lag ursprünglich in der Verantwortung des Ministeriums für Arbeit, ein Ausdruck der Kontrolle von Arbeitsüberschüssen. Dort, wo Regulierungen seitens der Regierung dafür gedacht waren migrantische Arbeiter_innen zu schützen, unterliefen Arbeitgeber_innen die Gesetze um Kosten zu sparen. Aufgrund ökonomischer Zwänge mussten die migrantischen Arbeiter_innen sich damit arrangieren.
In den 1980ern zwang der Kollaps der mexikanischen Ökonomie kleine Landbesitzer_innen dazu, ihr Eigentum zu verkaufen und sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Sweatshops entstanden daraufhin im nördlichen Teil des Landes und zogen einen Vorteil aus dieser Situation. Sie nutzten die billige Arbeitskraft und umgingen US-amerikanische Umwelt- und Arbeitsbestimmungen. Ein Jahrzehnt später sorgten dieselben Faktoren für einen Umzug dieser Fabriken nach Ostasien und zwangen die ehemaligen Arbeiter_innen nach Norden weiterzuziehen – auf die Farmen und Viehbetriebe der Vereinigten Staaten. Heute arbeiten (Ost-)Asiat_innen ebenso als migrantische Arbeiter_innen, oft in den erst seit jüngerer Zeit wohlhabenden Staaten (wie zum Beispiel auf der Arabischen Halbinsel).
Arbeiter_innen in eine Nation zu lassen – und zwar nur während der Arbeitsperiode und mit dem Verbot im Anschluss zu bleiben oder ihre Familien nachzuholen – ist ein Weg, um ein Maximum an Arbeit aus einem Minimum von Kosten zu ziehen. Auch wenn die Arbeiter_innen all ihre Ersparnisse nach Abzug der Lebenshaltungskosten nach Hause schicken, machen die Arbeitgeber_innen an ihnen mehr Profit, als sie an lokalen Arbeitskräften machen würden. Die Regierung muss die Schulausbildung und Sozialleistungen für sie und ihre Kinder nicht bezahlen. Dasselbe gilt für Tagelöhner_innen, bei denen Arbeitgeber_innen nur für die Arbeitsstunden bezahlen, die sie auch wirklich brauchen, ohne Angestelltenvergünstigungen oder tote Arbeitsstunden decken zu müssen. Migrant_innen ohne Papiere, die unter der Hand arbeiten müssen, erfüllen bereits den ultra-liberalen, kapitalistischen Traum eines deregulierten Marktes. So kommt es, dass diejenigen, deren Heimatländer bereits von Kolonisatoren geplündert wurden, sich selbst nun an die Türschwellen der Kolonisator_innen begeben müssen, um weiter ausgebeutet zu werden.
Non-Citizens, ob »illegal« oder nicht, sind extrem angreifbare Angestellte, auch wenn sie nicht aus geplünderten Nationen kommen. Sie genießen nicht denselben Schutz, den Bürger_innen genießen. Wenn sie versuchen, sich zu organisieren, können sie direkt gefeuert oder sogar abgeschoben werden. Konsequenterweise wurden sie oft eingesetzt, um Streiks zu brechen und Gewerkschaften zu spalten, was ebenfalls dazu diente, rassistische Spaltungen der Arbeiter_innen hervorzurufen.
Strafen für Arbeitgeber_innen, die illegale Einwander_innen einstellen, drücken nur die Löhne für migrantische Arbeiter_innen nach unten. Denn aus Sicht der Arbeitgeber_innen ist es das Risiko nur wert, wenn dadurch Kosten gesenkt werden, während die Arbeiter_innen die Jobs zu beinahe jedem Lohn nehmen. Ebenfalls hält eine Grenzverstärkung papierlose Einwander_innen nicht ab, sondern sperrt sie vielmehr ein. Wenn sie die Arbeit brauchen, werden sie einen Weg finden hineinzugelangen – jedoch ohne Hoffnung auf einfache Heimkehr. Dies erzeugt einen permanent marginalisierten Bevölkerungsanteil in den Vereinigten Staaten, der nicht mehr länger mittels Jobangeboten über die Grenze gelockt werden muss. Heute halten sich etwa 12 Millionen illegalisierte Einwander_innen in den USA auf, von denen viele den Großteil ihres Lebens hier verbracht haben. Das Gegenteil der Arbeitsmigration ist das sogenannte »Outsourcing«, bei welchem die Arbeit selbst auswandert, die Arbeiter_innen jedoch dort bleiben, wo sie sich befinden. Dank neuer Technologien müssen Unternehmen nicht in die »Entwicklungsländer« wandern, um diese auszuplündern – sie können die Arbeiter_innen zu verbilligten Preisen einstellen, ohne den Ort zu wechseln.
Heute, wo Menschen verschiedener Nationalitäten immer vermischter sind, ist die ökonomische Welt in privilegierte Zonen gespalten, die nicht mehr so sehr anhand von räumlichen Linien, als vielmehr an Linien der Identität durchgesetzt werden. Einige von ihnen sind in Gesetzen verschlüsselt und werden mittels Dokumenten umgesetzt, andere werden hauptsächlich durch ökonomische und soziale Strukturen auferlegt. In diesem Kontext ergänzt Nationalität das Klassensystem durch ein altmodisches Kastensystem, das ganz legal die Rechte und Bewegungsfreiheiten armer mexikanischer Arbeiter_innen einschränkt, bis sie in eine höhere Kaste einheiraten. Dies ist eine von vielen Arten, wie die Arbeiter_innen-Klasse gespalten wurde, um sie weiterhin für Ausbeutung angreifbar zu halten.


Die Grenzen werden dich nicht schützen – aber sie könnten dich töten

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Durch koordinierte Bombenanschläge und Schusswechsel in Paris, zu denen sich der Islamische Staat bekannte, wurden am 13. November 129 Menschen getötet. Obwohl dies nur das jüngste einer ganzen Serie von Attentaten ist, hat dieses eine andere Art von Aufmerksamkeit erregt als die Massaker in Suruç und Ankara, bei denen 135 Personen getötet wurden. Die Leben der jungen Aktivist_innen, die den kurdischen Kampf gegen den IS unterstützen – bisher der einzige bodengebundene Einsatz, der die Ausbreitung des Islamischen Staates blockierte – werden anders gewertet als die Leben von Westeuropäer_innen.
Das selbe gilt für die Leben der Millionen getöteten oder aus ihrer Heimat in Syrien vertriebenen. Europäische Nationalist_innen waren sofort zur Stelle, um die Anschläge mit der sogenannten “Flüchtlingskrise” zu verknüpfen. Gestützt auf die Behauptung, bei einem der Angreifer sei ein zu einem über Griechenland eingereisten Geflüchteten gehörender Pass gefunden worden, titelten britische Medien: »Jihadisten schlichen sich als falsche syrische Flüchtlinge nach Europa«. Diese Opportunist_innen möchten das noch frische Blut auf Paris Straßen nutzbar machen, um ihr Projekt der Schließung der Festung Europa zu Ende zu führen.
Ironischerweise fliehen viele derjenigen, die versuchen, Europa aus dem Mittleren Osten zu erreichen, vor ähnlichen, vom IS (und anderen Gruppen) durchgeführten Anschlägen. Deshalb überqueren sie Grenze um Grenze, riskieren dabei ihr Leben, um ein Europa zu erreichen, das sie nicht willkommen heißt. Ihnen den Fluchtweg abzuschneiden würde sie in vom IS kontrollierten Gebiet einschließen, was möglicherweise die Ressourcen des Islamischen Staates mehren und sicherlich den Frust verstärken würde, der die Menschen in die Hände des Islamistischen Fundamentalismus treibt.
Das war den Leuten, die die Angriffe geplant haben, sicher klar. Möglicherweise war es sogar eines ihrer Ziele.


IS im Osten, Grenzen im Westen: Das Dilemma der Geflüchteten.

Es gibt frappierende Ähnlichkeiten zwischen den Absichten europäischer NationalistInnen und den FundamentalistInnen des Islamischen Staates. Die Nationalist_innen möchten die Welt geteilt sehen in “gated communities”, in denen die Zugehörigkeit zu einer Nation als eine Art Kastensystem fungiert; die europäische Geschichte zeigt, dass in einer solchermaßen geteilten Welt die finale Antwort auf jedes Problem Krieg ist. Die FundamentalistInnen hingegen hoffen, die islamistische Identität als Basis eines globalen Jihad in Stellung zu bringen.
In dieser Hinsicht ist der einzig wirkliche Unterschied zwischen dem IS und den europäischen NationalistInnen das Kriterium der Zugehörigkeit in der Neuen Welt Ordnung©: Nationalität oder Religion? Sowohl der IS als auch die NationalistInnen wollen, dass die Konflikte des 21. Jahrhunderts zwischen klar definierten und konstruierten “Völkern”, die von konkurrierenden Mächten regiert werden und nicht zwischen den Herrschenden und den Beherrschten als Ganzes ausgetragen werden.
Selbstverständlich werden der Ausbau der Festung Europa und die nächste Welle von Luftschlägen dargestellt werden als ein Weg, Europäer_innen vor fremden Barbaren zu schützen, nicht als ein Mittel, den globalen Konflikt zu eskalieren.


Grenzen: Was uns trennt.

Zurück zum 11. September 2001, als Al-Qaeda Anschläge in Manhattan und Washington verübte. Als Antwort befahl der damalige Präsident George W. Bush den Einmarsch von US-Truppen in Afghanistan und Irak, um »die Welt für die Demokratie zu sichern«. Dabei bediente er sich bei einem anderen Präsidenten, der einen Krieg zur Beendigung aller Kriege rechtfertigte, während er Immigrant_innen dämonisierte. Eine von Bushs Rechtfertigungen war, dass durch die Besatzung dieser »Schurkenstaaten« die Orte ausgeschaltet werden könnten, von denen aus der Terror koordiniert wurde. Die Bush-Administration behauptete, durch Akte der selben willkürlichen Gewalt, die überhaupt erst derart viel Feindseligkeit erzeugte, US-Bürger_innen schützen zu können.
Anarchist_innen sind dem nicht aufgesessen. Als Antwort auf die Anschläge des 11. September und die militärischen Operationen die folgten, plakatierten wir die Wände überall in den Staaten mit der Aussage »Deine Anführer können dich nicht schützen, aber sie können dich töten.«

Wie wir prognostizierten, konnte der Einmarsch in den Irak und nach Afghanistan den Mittleren Osten nur destabilisieren und neue Generationen verbitterter islamistischer Kämpfer hervorbringen. So wie Al-Qaeda ursprünglich von der CIA finanziert und trainiert wurde, ist der IS heute mit genau dem Militärgerät ausgestattet, das in den Irak entsendet wurde, um die Region der Kontrolle der USA zu unterwerfen. Wie wir bereits 2006 im Rolling Thunder #3 [9MB, PDF] schrieben, hätte die Bush-Administration ihr erklärtes Ziel, islamistischen Widerstand zu erzeugen, kaum effektiver erreichen können:

»Mit schierer Weltherrschaft kann ein repressives Regime nichts anfangen. Sobald keine Barbaren mehr an die Tore klopfen, auf die als das größere Übel gezeigt werden kann, werden die Leute ruhelos – Ein Beispiel dafür ist die auf den Fall der Berliner Mauer folgende Dekade, als im Vakuum, das die kommunistische Bedrohung hinterließ der interne Widerstand wuchs und wuchs. Krieg ohne Ende könnte die Leute ebenfalls ruhelos werden lassen. Allerdings hält er sie auch damit beschäftigt, darauf zu reagieren, wenn nicht darin zu sterben – anstatt an der Wurzel des Problems anzusetzen.
Der militante Islam, einst ein Garagen-Startup, ist inzwischen eine globale Bedrohung, bereit, den kommunistischen Block zu ersetzen. Der westliche Kapitalismus hat seinen Einfluss und seine Kontrolle so weit ausgedehnt, dass externe Opposition nun von zuvor peripheren Teilen der Welt wie Afghanistan ausgehen muss; damals 2001 waren nur wenige Fanatiker aus dieser Peripherie genug, um die neue Ära des Terror-gegen-Demokratie einzuleiten. Es wird allerdings sehr viel mehr Fanatiker brauchen, um sie aufrecht zu erhalten und die US-Außenpolitik wird sie produzieren.«

Die Intensivierung von Sicherheitsstaat und Grenzkontrollen wird nur die Spannungen verschärfen, die die Menschen aus Frankreich und Großbritannien ebenso wie im Irak und in Syrien in die Reihen des IS treiben. Ein hartes Durchgreifen an den Außengrenzen Europas bedeutet ein hartes Durchgreifen auf jeden Aspekt des Lebens innerhalb der Festung. Spezialeinheiten wurden zur Unterstützung der britischen Polizei eingesetzt; der Präsident der New Yorker Polizei hofft, die Überwachung von Telekommunikationsgeräten zu intensivieren; der frühere französische Präsident Sarkozy möchte jede Person, die verdächtigt wird radikal zu sein, zwingen, eine elektronische Fessel zu tragen. Dies ist nicht nur eine Frage davon, wie Geflüchtete behandelt werden, es geht darum, wie das Leben für alle von uns in einer Ära ständig verstärkter staatlicher Kontrolle sein wird.


Das neue normal.

Die Anschläge in Paris sind zweckdienlich für diejenigen, die damit beschäftigt sind, soziale Unruhen zu unterdrücken. Wenn Hillary Clinton sagt, »wir befinden uns nicht im Krieg mit dem Islam, wir befinden uns im Krieg mit gewalttätigem Extremismus«, impliziert das, dass jede_r die_der für sich selbst gegen das harte Durchgreifen aufsteht als gewalttätige_r Extremist_in behandelt wird. In den Vereinigten Staaten wurde die Nationalgarde im letzten Jahr drei mal eingesetzt, um Proteste gegen Polizeimorde niederzuhalten – nicht nur der IS tötet. In Europa, wo es sehr heftige Proteste gegen die Austerität gab, wurden in den letzten drei Jahren 68 Anarchist_innen unter Terrorismusvorwürfen verhaftet – als Vergeltung für Aktivitäten in sozialen Bewegungen, nicht für Anschläge auf Zivilist_innen.
Von Washington und Paris nach Raqqa und Mosul, haben die, die die Macht haben keine wirklichen Lösungen für die ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen unserer Zeit; sie konzentrieren sich mehr darauf, die sozialen Bewegungen zu unterdrücken, die eine Gefahr für sie darstellen. Aber wo immer solche Bewegungen zerschlagen werden, wird Unzufriedenheit in Organisationen wie den IS, die ihre Probleme lieber durch religiösen Krieg als durch kollektiven revolutionären Umbruch lösen, kanalisiert werden.
Also kann das harte Durchgreifen die Situation nur schlimmer machen. Härtere Grenzkontrollen werden uns nicht vor Anschlägen wie dem in Paris schützen, aber weiter den Tod unzähliger Geflüchteter verursachen. Luftschläge werden Selbstmordattentäter nicht stoppen, aber neue Generationen mit Hass auf den Westen hervorbringen. Überwachung wird nicht jedes Attentat verhindern, aber soziale Bewegungen treffen, die eine Alternative zu Nationalismus und Krieg aufzeigen.
Wenn die Befürworter_innen der Festung Europa uns erfolgreich unterdrücken und spalten, werden wir uns sicher in einem Kampf gegeneinander wieder finden: teile und herrsche. Unsere einzige Hoffnung ist es, gemeinsame Sache zu machen gegen unsere Herrschenden; Brücken zu bauen über die Begrenztheiten von Nation und Religion bevor die ganze Welt auf der Schlachtbank des Krieges zerlegt ist.
In diesem Zusammenhang können wir Inspiration aus all jenen ziehen, die in den letzten Monaten den Grenzen trotzten und so zeigten, dass diese künstlichen Trennungen überwunden werden können. Im August durchbrachen Hunderte die Grenze von Griechenland nach Mazedonien. Im September, als Züge, die angeblich Geflüchtete durch Ungarn an die österreichische Grenze bringen sollten, stattdessen in einem von Zäunen und Riotcops umgebenen Internierungslager ankamen, sperrten die Passagiere sich selbst im Zug ein, verweigerten die Nahrungs- und Wasseraufnahme, durchbrachen schließlich den Zaun und flohen über die Felder zur Autobahn. Im Oktober, stürmten über hundert Menschen den Eurotunnel zwischen Frankreich und London. Vor nur wenigen Wochen brachen tausende wiederholt durch die Polizeiketten, die Slowenien und Österreich trennten. In jedem dieser Fälle sehen wir Menschen zusammenarbeiten, um die Schwachstellen in den Mauern zu finden, die die Menschheit teilen. Ohne diese Anstrengungen hätten die europäischen Regierungen sicherlich noch weniger getan, um die Geflüchteten zu unterstützen.
Durch das Aufbrechen der Grenzen und die Unterstützung von anderen, die sie durchbrechen, können wir denen, die aus Syrien – und Mexiko und all den anderen Kriegsgebieten der Welt – fliehen zeigen, dass sie Mitstreiter_innen auf der anderen Seite der Zäune haben. Das ist unsere größte Chance, sie davon abzuhalten, die Möglichkeit gemeinsamer Solidarität aufzugeben und sich Organisationen wie dem IS anzuschließen. Ebenso wird der IS weniger dazu fähig sein, auf potentielle KonvertitInnen durch den Hinweis auf den Schaden, der Muslimen in der ganzen Welt zugefügt wird, einzuwirken, je mehr wir den Sicherheitsapparat und die Kriegsmaschinerie stören. Jedes mal, wenn wir das tun ergreifen wir die Initiative, den wesentlichen Kampf unserer Zeit zu bestimmen: Nicht Terroristen gegen Regierungen, nicht Islam gegen den Westen, sondern die ganze Menschheit gegen die Strukturen und Ideologien die uns gegeneinander in Stellung bringen.


Den Weg zum Ausbruch aus der Knastgesellschaft weisen.


englischer Originaltext

2015 – ein Rückblick

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Auch dieses Jahr hat der Ex-Worker Podcast von CrimethInc einen Jahresrückblick für 2015 veröffentlicht:

Wir haben dazu einige Freund*innen, die sich aktuell in Rojava / Kurdistan aufhalten nach einem Jahresrückblick gefragt und wollen euch hier ihre Antwort präsentieren. Einiges an Hintergrundinfos zu Kurdistan könnt ihr auf englisch im CrimethInc Artikel über den kurdischen Widerstand nachlesen oder auf deutsch zum Beispiel auf der Seite der Informationsstelle Kurdistan finden.

Dear friends,
a friend told us you‘re collecting impressions and reviews on the year 2015 out of a emancipatorian, revolutionary perspective, which seems quite a good idea to us. It’s always good to strengthen our collective consciousness and awareness; to understand the unity of all the revolutionary processes, the great story we‘re in – the global struggle for a new world, in which all worlds fit.
We‘re writing you from Cizre Canton, Rojava, Syria, as some friends, who came here from central europe. We wanted to learn from the Kurdish struggle and connect our different backgrounds to its great treasure of experiences, its philosophy and its methods of organizing.
This year there have been some great progresses for the democratic project of Rojava. As you may know, here three things are happening in the same time – a social and mental revolution, an experiment of radical democracy; military defense and diplomatic entanglement with external powers. As you may know, the revolution is based on establishing a communalist system, like described by Murray Bookchin, and started to organize openly since Assad drew back his troops needing them in the west against the Free Syrian Army. For Rojava, the Civil War turned into a fierce war not only against the regime, but before all against an outer enemy, who has lost all ethical substance and who wants to establish a fascist regime of political islam – the so-called Islamic State.
Since last year Kobane was under military siege and the military situation in general was really difficult, this year the YPG / YPJ reached to free not only Kobane itself and all the villages in the Canton, but also established a corridor between Cizre and Kobane. Also Shengal was freed from IS, so that we now look at a state-free territory under people’s self administration from the Euphrates River in northern Syria in the West until the Shengal mountains in northern Iraq in the East – a historical step in renewing the Middle East.
So, this year started with really good news. After the military victory over IS the rebuilding of Kobane town began, and now life is flourishing again in Kobane Canton as well with many refugees coming back to their villages and to the city. After the Shengal mountains were liberated in beginning of spring, the democratic autonomy was proclaimed and self-defense forces established.
As you know, there is a strange international spotlight on the Middle East, dealing with the new order of this region, with all global players involved you can imagine – the US and the other NATO-states, Russia and its alliances like the political Islam of Shia, such as Iran and the old regime of Damascus. And, not least, the forces of political Sunni Islam, with Turkey isolating itself while supporting militant djihadist groups, and the more pragmatic Arabic states on the Persian Gulf supporting whoever represents their goals. Their game entangles Rojava and the improvised self-government in this game of hegemony. Altogether, even in this strange situation of chaos this year brought up some good things – a lot of external forces now accept the Kurdish movement and Rojava as dialogue partners. Arab opposition forces fought alongside with YPG / YPJ against jihadist gangs, and accepted the achievements of the revolution. While before, the Kurdish society was really isolated within Syria, now there is a process of common understanding and exchange going on. We even heard rumors from small Drusian cities in the south of Syria, which got in contact with the rojava councils in order to learn methods for communalist self organizing. So the system of Democratic Autonomy spreads, and together with the effective way of self defense the YPG / YPJ established, this year brought a good piece of hope to the Middle East and the people, now having an example for an alternative to nation states and neoliberal invasion.
The biggest problem this year turned out to be the huge wave of refugees leaving Rojava. Even though there is a revolution going on, the situation is quite hard for living. Rojava, even though it became larger and much more secure within its territory, is still isolated by an embargo from all sides: in the north by the Turkish border becoming highly militarized, in the east by the Kurdish Regional Government of Kurdish Democratic Party of Barzani, an ally of Turkey and western capitalist states, and in the south and west by the Islamic State. In terms of infrastructure like water and electricity the situation got better, and there is no lack on food and basic needs. But the problem is, that, when you weren‘t much involved in the process of building up the society from anew until now, it may be that the hope for an easy and prosper life in Europe is stronger than your faith in the achievements of the revolution and the friends working for social progress. The last month the wave of emigration decreased again, and for a lot of people it got clear, that Europe won‘t be the answer for the problems of the Middle East. The image of Europe as a secure place of welfare and pluralism is a big threat for an experiment like Rojava, for it drives away the counsciousness about actual need of mutual support and common work in the place you are, and which for sure isn‘t lost – it’s a dangerous hope facing the Rojava societies, being rescued in another place or by external force.
For us as internationalists and activists this year turned out to be a huge progress in personal and collective experience. Essentially we came here for learning about what it means when a society wakes up from long oppression under a regime which tried to hold it unconscious and helpless. Also for us this year we got an impression what it really means to get granted political asylum not in a nation state, but by a society which takes it as given to be responsible and to help everyone who asks for help. Understanding is a long process, and as the story of this revolution is still unwritten, we are willing to stay here also in the year coming to fight and work alongside with the friends who started all this and gave us and a lots of others again new hope for a global revolution and a free Kurdistan. The friends here never distinguish between those prospects.

Probably the year coming won‘t tranquilize the Middle East and Rojava. For sure IS will get hit really hard, and sooner or later they will lose their territory. Then it comes to talks for a new Syria, and as it turns out already, Rojava will play its role and be able to serve as an impressive example of decentralized basis democracy, where people really get involved. Also there will be more and more people coming to Rojava willing to learn and fight together. As far as how things are done here, we can be curious about the opportunities for revolutionary forces in all the world once it becomes clear what this revolution could mean. Until now, it has already abolished borders, and given a new perspective for the whole Middle East and beyond.

We hope that we were able to put another piece to widen our horizon about these interesting times we stumbled in. We look forward to meet at events and occasions coming up, to exchange the secret word of conspiracy against their world, and for fighting together with you to create something better.

With revolutionary regards,
an internationalist committee, Rojava, Syria.

Von Deutschland nach Bakur

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Seit seiner erfolgreichen Verteidigung Kobanês gegen den IS vor einem Jahr zog der kurdische Widerstand internationale Medienaufmerksamkeit auf sich. Inzwischen haben die Experimente, eine staatenlose Gesellschaft in den autonomen Kantonen von Rojava aufzubauen, Anarchist_innen auf der ganzen Welt fasziniert. Aber um den kurdischen Widerstand in Rojava (West-Kurdistan) zu verstehen, müssen wir den Blick auf die Kämpfe um Freiheit und Autonomie in der Region ausweiten. Wir haben zwei Mitglieder eines internationalen anarchistischen Netzwerks in Deutschland, die Zeit in Bakur (Nord-Kurdistan) verbrachten und von den dortigen Kämpfen lernten, interviewt. Ausgehend von einem historischen Überblick über die Entstehung der kurdischen Bewegung und des »neuen Paradigma« der jüngsten Dekade der PKK beschreiben sie, dass ihre eigenen Erfahrungen in Kurdistan ihr Verständnis von anarchistischen Kämpfen anderswo auf der Welt neu ausrichteten.


Europäische Anarchist_innen über den kurdischen Kampf

In unserem Feature „Den kurdischen Widerstand verstehen“ und im Ex-Worker podcast, Episode 36 und 39, konzentrierte sich unsere Diskussion des kurdischen Kampfes für Freiheit und Autonomie auf Rojava (West-Kurdistan). Wichtige Kämpfe finden aber auch in anderen Teilen Kurdistans statt, von denen manche nicht so viel Aufmerksamkeit erhielten. Könntet ihr etwas zum historischen Hintergrund für die Entstehung der kurdischen Bewegung erläutern und die sich heute entfaltenden Kämpfe in Bakur (Nord-Kurdistan) darstellen?

Okay, die Geschichte beginnt vor langer, langer Zeit mit Leuten, die um ein Lagerfeuer im Oberen Mesopotamien sitzen. Vor rund 4300 Jahren bildete sich eine neue soziale Struktur im Mittleren Osten heraus – eine höchst aggressive Form sozialer Organisierung, die über die alten gemeinschaftlichen Strukturen herfiel: Der sumerische Priesterstaat. Der historische Prozess der zur Revolution in Rojava führt, kann nicht ohne Anerkenung der langen Tradition des Widerstandes und der Aufstände in den kurdischen Regionen an den Gebirgsketten Zagros und Tauros verstanden werden. Diese Region war möglicherweise die erste, die Ziel von Kolonialisierung des aufstrebenden Staatensystems war. Dessen Wurzeln liegen im Unteren Mesopotamien, dem heutigen nördlichen Irak. Es handelt sich um den Vorgänger des heutigen westlichen Staatensystems. Die PKK und die kurdische Bewegung verorten sich heute selbst in dieser langen Tradition des antistaatlichen Widerstands, sehen sich als den 29. kurdischen Aufstand der Geschichte. Die kurdischen Regionen lagen schon immer an den Rändern starker Imperien, sie wurden von ziemlich jeder imperialistischen Struktur angegriffen, die sich in den letzten paar Tausend Jahren in der Region herausbildete. Wegen des bergigen Terrains und der dezentralisierten sozialen Organisierung der Kurd_innen in Dorf-Konföderationen konnten diese Regionen nie völlig erobert und assimiliert werden. Rückblickend trotzten sie tausende Jahre den Bemühungen äußerer Mächte, in ihr Territorium vorzudringen und mit feudalen kurdischen Eliten zu kooperieren, um Unterwerfung zu sichern und Rebellion zu verhindern (oder wenigstens zu isolieren).

Wenn wir ins 20. Jahrhundert vorspulen, sehen wir diese Dynamiken immer noch am Werk als das moderne regionale Nationalstaatensystem aufkommt. Der türkische Staat wurde 1923 nach dem Kollaps des Osmanischen Reiches, das die türkischen Territorien im Osten beherrschte aber ihnen kulturelle und sogar politische Autonomie garantierte, gegründet. Während des Ersten Weltkrieges verbündeten sich die Osmanen mit den Mittelmächten und schmiedeten so bestimmte politische und ideologische Verbindungen mit Deutschland, die bis heute anhalten. Nach der Niederlage der Mittelmächte und dem Kollaps des Osmanischen Reiches, kämpften türkische Nationalisten für ihren eigenen Staat. Von seiner Gründung an war die Ideologie des neuen Staates ultra-nationalistisch. Die NationalistInnen riefen die Türkei als einen Staat für alle Türk_innen aus und definierten alle innerhalb seiner Grenzen als Teil der großen türkischen Nation, nicht ohne ihren Staat mit der Idee ethnischer Überlegenheit zu verknüpfen. Im Ergebnis wurden all jene, die eine andere ethnische oder nationale Identität beanspruchten, seien es Assyer_innen, Armenier_innen, Kurd_innen oder andere, wie Verräter_innen und separatistische Terrorist_innen behandelt. Bis in die 1990er waren Kurdisch und andere nicht-türkische Sprachen in der Türkei offiziell verboten – nicht nur in Staatsangelegenheiten, sondern sogar im privaten Gebrauch.


Parade türkischer Soldaten.

Wir sprechen über all die Geschichte weil dies wichtig ist, um die Härte der Bedingungen zu verstehen, in der die Partiya Karkeren Kurdistan (PKK), die Arbeiter_innenpartei Kurdistans, gegründet wurde. Die zeitgenössische kurdische Bewegung entstand während der Jugendrevolte 1968 in der Türkei, wo eine revolutionäre Unruhe unter den sozialistischen Organisationen, radikalen Student_innen, Arbeiter_innen und Kleinbäuer_innen wuchs. In den 1970ern versammelte sich eine Gruppe kurdischer und türkischer Freund_innen um Abdullah Öcalan, Kemal Pir, Haki Karer und andere in Ankara und begann, die kurdische Frage aus einer revolutionären Perspektive zu debattieren. Eine ihrer zentralen Ideen war, dass Kurdistan eine interne Kolonie darstelle und von kolonialer Unterdrückung befreit werden müsse um eine sozialistische Utopie aufzubauen. So wurde die PKK 1978 gegründet und begann, sich nach den Grundlagen klassischer marxistisch-leninistischer Theorie zu organisieren. Unter dem »alten Paradigma«, wie sie es heute nennen, zielte die PKK darauf, eine politische Avantgarde zu organisieren und startete einen revolutionären Krieg zur Befreiung der kurdischen Territorien und zur Errichtung eines kurdischen Staates, der dann genutzt werden sollte um den Sozialismus aufzubauen.

Im stark repressiven Klima der Türkei in den 1970ern waren viele entschlossen für ein anderes Leben zu kämpfen und die Strategie und Überzeugung der PKK breiteten sich rapide aus. 1984 starteten sie einen Guerillakampf der in einem brutalen Bürgerkrieg eskalierte. Die Guerillabewegung erhielt erhebliche Unterstützung aus der Gesellschaft und konnte in vielen Regionen nicht von der Bevölkerung insgesamt unterschieden werden. Als Antwort starteten die türkische Armee, die Militärpolizei und der Geheimdienst Vergeltungsfeldzüge um die Rebell_innen zurück zu schlagen und die Bevölkerung einzuschüchtern. Unter der Schutzherrschaft des NATO-gesponserten anti-kommunistischen Programms »Gladio« zerstörten sie um die 4.000 Dörfer und töteten mehr als 40.000 Menschen.


Ein kurdisches Dorf in Bakur.

Unter dem Eindruck dieses Blutvergießens begann die kurdische Befreiungsbewegung in den frühen 1990ern einen Prozess der Reflexion und Selbstkritik. Zusätzlich zur Begegnung mit brutaler staatlicher und paramilitärischer Repression wurde die Guerillabewegung von internen Problemen mit manchen PKK-Führern, die sich wie feudale Warlords mit einer militaristischen Logik der Blutrache verhielten, geplagt. Es wurde klar, dass lediglich militärischer Kampf nichts lösen würde. Das alte Paradigma führte zu erbarmungslosem Krieg und Feindseligkeit und konnte weder soziale Probleme innerhalb der kurdischen Gebiete angehen, noch sie effektiv vor äußeren Bedrohungen schützen. Die PKK erklärte 1993 eine einseitige Waffenruhe, womit sie den Bürgerkrieg unterbrachen und der Formulierung eines anderen Paradigma für gesellschaftliche Transformation Raum gaben. Die kurdische Bewegung meisterte viele Rückschläge und Herausforderungen während dieses Prozesses der Reflexion – wiederholte Versuche des türkischen Staates, erneute Ausbrüche des Bürgerkriegs zu provozieren, die Verschleppung und Inhaftierung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und den Aufstieg antiquierter feudalistischer kurdischer Parteien wie dem Barzani Clan im Nordirak. Doch trotz dieser Herausforderungen entwickelte die kurdische Bewegung zwischen 1993 und 2005 was sie nun »das neue Paradigma« nennen und welches die Ziele und Strategien der kurdischen Bewegung tiefgreifend veränderte.

Ein bedeutender Fortschritt hin zu diesem Prozess interner Veränderung kam aus der kurdischen Frauenbewegung. Tausende von Frauen traten während des Bürgerkrieges den Guerillastreitkräften bei. Oft fanden sie sich im Konflikt mit antiquierten Kommandeuren, die versuchten sie in ihren traditionellen Geschlechterrollen zu halten und sie nicht gleich behandelten. In Reaktion darauf gründeten sie komplett autonome weibliche Guerillaeinheiten, was einen ziemlich revolutionären Schritt in ihrem kulturellen Umfeld bedeutete. Sie eroberten sich das Recht zurück, in der Schlacht zu kämpfen und organisierten sich selbst als Teil der Bewegung wobei sie allerdings autonom ihre eigenen Entscheidungen trafen. Wie unsere Freunde uns berichteten, kämpften sie auch anders: In rein männlichen oder gemischten Einheiten hielt sich konkurrierendes Verhalten, ein Erbe vieler Generationen hierarchischer Gesellschaftsordnung das bis heute ein Problem darstellt. Die Dynamiken unter den Kämpferinnen waren weniger konkurrenzförmig; das zeigt die Anzahl gefallener Kämpferinnen. Die meisten Verluste ereigneten sich während des Rückzugs von Aktionen, auf dem mackerige Attitüde und der Stolz über den Sieg unter den männlichen Kämpfern ziemlich verbreitet waren. Im Kontrast tendierte die Aufmerksamkeit in den Fraueneinheiten dazu, langanhaltender zu sein und ihre Kämpferinnen zeigten sich weniger anfällig für diese potentiell fatale Vermessenheit.


Kurdische Kämpferinnen.

Zusätzlich zu den autonomen militärischen Einheiten bildeten Frauen auch soziale und politische Komitees um die Probleme patriarchaler Unterdrückung zu besprechen. Heute ist der Kopf der Frauenbewegung die Komalen Jinen Kurdistan (KJK), die Konföderation der Frauen in Kurdistan, die Teil der KCK, der Allgemeinen Konföderation, ist, Entscheidungen aber unabhängig trifft. Zudem kommt der Frauenbewegung ein Vetorecht gegen die Entscheidungen, die von Männergruppen in allgemeinen Versammlungen getroffen werden, zu. Unter ihrem Einfluss hat die kurdische Bewegung traditionsreiche patriarchale und hierarchische Muster in ihren Organisierungsmodellen hinterfragt.

Durch einen ideologischen Flügel um ihren Vorsitzenden Abdullah Öcalan, der die Idee des demokratischen Konföderalismus nach einer tiefgreifenden historischen Analyse des hierarchischen Systems des Mittleren Osten und darüber hinaus formulierte, wurde der Verschiebungsprozess hin zum neuen Paradigma innerhalb der PKK vorangetrieben. Ausgehend von den antiken sumerischen Priesterstaaten, die die ursprüngliche Herausforderung für die egalitäreren und oft frauenzentrierten Formen sozialer Organisation, die ihnen vorausgingen, darstellten, betonte er, dass sich die Probleme der Macht, Unterdrückung und Gewalt aus dem historischen Prozess der Zivilisation selbst entwickelten. Die Probleme der Unterdrückung, des Krieges und Suche nach Macht hängen mit der Institutionalisierung patriarchaler Verhältnisse in staatlichen Strukturen und des Priestertums zusammen. Das kapitalistische System, der Nationalstaat und Industrialismus sind Konzepte, die sich aus diesen hierarchischen und männerdominierten Denkweisen entwickelten. Öcalan bediente sich auch bei den Ideen des amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin bei seiner Analyse des utopischen Potentials des demokratischen Konföderalismus und betonte die Bedeutung davon, ein neues ökologisches, demokratisches und geschlechterbefreiendes Paradigma zu akzeptieren. Zentral für seine Konzeption des »neuen Paradigma« der PKK war die Idee des Kommunalismus, nach dem jeder Teil der Gesellschaft sich selbst organisieren und in dezentralisierten, kommunitaristischen Konföderationen zusammen kommen sollte.

Von diesem neuen Paradigma inspiriert wurde 2005 die Komalen Ciwaken Kurdistan (KCK), die Konföderation der Gesellschaften Kurdistans, gegründet. Ihren Kern stellt ein System von Räten der Nachbarschaften, Dörfer und Städte dar. Dieses System dient als starke Gegenmacht zur Unterstützung der Entwicklung von Autonomie gegenüber Nationalstaat und kapitalistischer Ökonomie. Die KCK stellt die Hauptversammlung des Rätesystems in Kurdistan dar, in der Delegierte von all den teilnehmenden kurdischen Regionen eingeschlossen sind. Sie wählt ein Organ mit dem Mandat, sich um für alle Regionen bedeutende Belange wie diplomatische Stellvertretung auf globaler Ebene, ideologische und strategische Vorschläge oder Verteidigungsfragen zu kümmern. Sie verwalten außerdem die Volksverteidigungskräfte (HPG), die alle bewaffneten Flügel aller Teile der Bewegung einschließt. Über die vergangene Dekade hat die Bewegung in Nordkurdistan Strukturen für eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft trotz schwerer Repression und Kriegszustand aufgebaut.

Wie die KCK, die die Strukturen der demokratischen Autonomie durch Kurdistan umgibt, umfasst der Demokratik Toplum Kongresi (DTK), der Demokratische Gesellschaftskonkress das Rätesystem in der Region Bakur, oder Nordkurdistan, welches innerhalb der Grenzen des türkischen Nationalstaates liegt. Die föderale Struktur der DTK beginnt auf der Ebene des Dorfes oder der städtischen Nachbarschaft bis hinauf über Stadtteil, Stadt und schließlich zur Region Bakur. Auf der höchsten Ebene der Föderation schließt die DTK-Versammlung alle (abwählbaren) Delegierten von mehr als 500 zivilen gesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und politischen Parteien mit einer 40 prozentigen Frauenquote und für religiöse Minderheiten reservierten Sitze in den Versammlungen und einem dualen Beisitzendensystem, das einen Sitz für eine männliche, den anderen für eine weibliche Person reserviert ein. In klassischem Graswurzelstil bemühen sich die Teilnehmenden um die Lösung lokaler Probleme auf lokaler Ebene und nur dann, wenn sie keine Lösung finden können, suchen sie danach auf der nächst höheren Ebene. Nicht-Kurd_innen, einschließlich der aserbaidschanischen und aramäischen Communities, nehmen an einigen der Versammlungen teil. Außerdem organisieren sich junge Leute sowohl in als auch parallel zu diesen Strukturen unter dem Slogan »Kapitalismus ist ein alter Mann – wir sind eine Bewegung der Vereinigten Kräfte der Frauen und Jugend.« Dieser Vergleich betont die Notwendigkeit der Organisierung der Jugend und der Frauen zur Überwindung der etablierten Altlasten der Hierarchie in der kurdischen Gesellschaft und reflektiert darüber hinaus die Philosophie, dass Jugend keine Frage des tatsächlichen Alters sondern eher eine Einstellung ähnlich des zapatistischen Slogan »caminando prequntando«, »Fragend schreiten wir voran« darstellt.

Diese föderale Struktur der Räte und zivilen Organisationen wurde aufgebaut, um durch demokratische Prozesse von unten nach oben alltägliche Probleme zu lösen und die Selbstorganisation der ganzen Bevölkerung zu unterstützen. Daher schlägt das Konzept demokratischer Autonomie lokale und regionale Strukturen vor, durch die kulturelle Unterschiedlichkeiten frei ausgedrückt werden können, statt einfach nur nach Begriffen wie Ethnie oder Gebiet zu definieren. Dadurch gibt es eine farbenfrohe Vielfalt an Bildungseinrichtungen, kulturellen und sozialen Organisationen und Experimente mit dem Aufbau kooperativer Ökonomie in Nordkurdistan. Es lohnt sich, die Mediationskomitees herauszustellen, die darauf zielen, einen Konsens zwischen Konfliktparteien und dadurch eine langfristige Einigung herzustellen statt das Problem durch Bestrafung nur aufzuschieben. Das führt oft zu langen Diskussionen, zeigt aber ein Konzept kollektiver Verantwortung in dem die Beschuldigten nicht durch Strafe oder Haft ausgeschlossen, sondern auf die Ungerechtigkeit und den Schaden den ihr Verhalten angerichtet hat, aufmerksam gemacht werden sollen. Das hat staatliche Gerichte in vielen Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung überflüssig gemacht. Neben diesen Mediationskomitees und anderen Gremien findest du soziale Zentren für die Jugend und die Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft, in denen sich die Aktivitäten von kurdischen Sprachkursen und politischen Seminaren über Musik bis zu Theatergruppen erstrecken.

Das ist der Zusammenhang in welchem wir den Erfolg der anhaltenden Revolution in Rojava verstehen sollten. Die kurdische Bewegung kann auf 40 Jahre radikalen Kampfes mit ihren Fehlern, Reflexionen und Fortschritten zurück blicken. Obwohl der Aufbau demokratischer Autonomie im Norden Kurdistans sich als sehr viel chaotischer heraus gestellt hat, mit den alten Staatsstrukturen verwoben bleibt und in einen sozialen und ökologischen statt einen militärischen Krieg verhaftet bleibt, ist er weitgehend vergleichbar mit den Prozessen in Rojava.


Türkische Polizei verhindert die Flucht syrischer Kurd_innen vor dem IS.

Eine Frage, die Anarchist_innen über diesen Kampf stellen ist wie stark die frische antiautoritäre Ausrichtung des kurdischen Kampfes – einschließlich der Strukturen des demokratischen Konföderalismus, der Prinzipien der Frauenbefreiung und so weiter – von oben nach unten, von Abdullah Öcalan und der Führerschaft der PKK, kommen. Es würde wie ein Widerspruch erscheinen wenn eine antiautoriäre Revolution von oben dirigiert würde! Was ist eure Perspektive zum Verhältnis zwischen der Ideologie der Führer_innen in diesen Organisationen und der Transformation sozialer Verhältnisse und Strukturen in Kurdistan?

Das ist ein ziemlich schwieriges Thema, das wir ziemlich oft diskutieren und das, zumindest in Deutschland, mit einer bestimmten von schlechten Erfahrungen mit revolutionären Kämpfen abstammenden Angst verknüpft ist. Sicher, die Frage der Führerschaft und Initiative ist eine der schwierigsten wenn wir uns mit Selbstorganisation auseinandersetzen und das ist sie auch für die kurdische Bewegung. Die wirklichen Fragen sind: Wie kann es einen drastischen revolutionären Wandel in der Gesellschaft geben? Wer bewertet, was gebraucht wird? Und wer entscheidet in welche Richtung es gehen soll? Die Antwort muss sein: jede, zu allem, immer. Vielleicht kann die Entwicklungsgeschichte der kurdischen Bewegung und der PKK ein nützliches Beispiel bieten, das in der westlichen Welt erst noch ganz verstanden werden muss. Öcalan und die PKK geben nicht einfach ein festes ideologisches Schema oder ein dogmatisches System, wie der von den früheren sozialistischen Staaten behauptete eine und einzig wahre Weg des Marxismus-Leninismus, heraus. Vielleicht täuscht uns die Ästhetik revolutionären Sozialismus – der bärtige Führer und der düstere, selbstlose Guerillakämpfer – wenn wir nicht hinter das Bild blicken und weiter nachforschen.


Hinter den Bart blicken?

Was wir heute in Kurdistan sehen, sowohl in Rojava als auch im Norden, ist eine neue Methode durch die die ganze Gesellschaft zu Bewusstsein gelangt. Wenn wir die Hartnäckigkeit des Staates und patriarchaler Unterdrückung als ein Problem dessen verstehen, dass sich die Leute ihrer Widerstandsmöglichkeiten nicht bewusst sind, sehen wir die Wichtigkeit darin, das gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. In allen Teilen Kurdistans wo sich die Befreiungsbewegung organisiert finden wir Komitees, die herausbilden was sie Akademien nennen. Eine Akademie kann viele verschiedene Formen annehmen, aber am einfachsten verstehen wir sie als einen kollektiven Raum zur Schaffung eines gemeinsames Bewusstseins. Manche können einfach eine Diskussionsgruppe sein, die sich einmal wöchentlich trifft, aber es gibt auch längere, intensiviere, an denen alle Aktivist_innen beteiligt sind (und seit einigen Jahren kann jedes Gesellschaftsmitglied beitreten). Die Akademien sind immer mit anderen sozialen Organisationen verknüpft; die Jugendgruppen und die Frauenbewegung haben ihre eigenen Akademien, während andere Gruppen allgemeine Akademien für jede_n organisieren. Jede davon betont Selbstermächtigung und in diesen Institutionen werden die Vorschläge, die Öcalan und die PKK anbieten intensiv diskutiert und kritisiert. Und diese Anführer_innen sind nicht die einzigen, die Vorschläge machen: Jede Institution, jedes Komitee und jede_r einzelne kann ihre_seine eigenen Ideen verbreiten.

Diese Praxis entwickelte sich aus dem Prozess politischer Bildung innerhalb der alten PKK, wo es für alle Militanten und Guerillakämpfer_innen üblich war, sowohl militärisches als auch ideologisches Training zu erhalten. Mit dem Aufkommen des neuen Paradigmas wurde klar: Das Ziel wäre nicht einfach eine gut ausgebildete philosophische Elite wie im alten Kadersystem des Leninismus, sondern die Entfaltung des Bewusstseins buchstäblich jeder Person, die am Prozess der Bildung einer neuen Gesellschaft teilhat. Die, die sich selbst organisieren möchten, müssen ihre eigenen Beziehung zur Welt reflektieren, was die Vertiefung der eigenen Ergründung der Philosophie bedeutet.

Eine Methode, die in diesen Akademien oft genutzt wird, würden wir vielleicht assoziative Analyse nennen. Wenn ein bestimmtes Thema diskutiert wird, bietet jede und jeder die eigenen Assoziationen damit an und durch den Prozess in dem jede Person ihre Eindrücke und Erfahrungen schildert während die anderen aufmerksam zuhören und sich um Verständnis bemühen, kann ein Konsens erreicht werden. Auf einer theoretischen Ebene negiert dieser Ansatz die Möglichkeit der »Objektivität« und ersetzt sie durch eine Methode multipler Subjektivitäten. Wenn du deine eigene Position in einer konkreten Debatte herausfindest, indem du dir sowohl deinen eigenen Willen zu handeln als auch die in dir aufkommenden Ängste klarmachst, wird daraus klar ersichtlich, was strategisch notwendig ist.

Heute hat die Rolle und Position der Militanten in der PKK und PAJK (die Frauenbefreiungspartei) sich im Vergleich zu den 1980ern und ’90ern verändert. Ihr Selbstbild hat sich dem angenähert, was wir als eine militante anarchistische Persönlichkeit verstehen könnten: Kämpfen für Selbstermächtigung und gegenseitige Hilfe. Unter dem alten Paradigma mussten die Militanten selbstlos und aufopferungsvoll sein. Obwohl diese Konzeption nicht gänzlich verschwunden ist, verändert sie sich, da die Diskussionen in der Bewegung Dichotomien zurückweisen und den Kampf für sowohl einen individuellen Fortschritt der Selbstveränderung als auch für kollektive Schönheit und Stärke unterstützen. Mit der Veränderung der Konzeption der Rolle der Militanten, wiesen sie die überholten Ideen, eine Avantgarde zu werden, zurück. Stattdessen geht es darum, eine gut organisierte, sekulär enthaltsame Lebensform zu führen, die auf der Idee basiert, dass der Kampf für unsere Freund_innen und für die Revolution der beste Weg ist, ein Leben zu leben.

Was habt ihr aus eurer Zeit in Kurdistan für radikale Kämpfe in Deutschland und darüber hinaus gelernt?

Mein Engagement mit der kurdischen Befreiungsbewegung, als ein historischer Kampf, als eine Gesellschaft in Rebellion, hat es mir tatsächlich ermöglicht, wieder zu glauben – nicht nur, dass diese Welt absolut inakzeptabel ist, auch was die Möglichkeiten des Kampfes für eine andere Welt an geht. Ich würde das die Rückeroberung der Kraft der Phantasie nennen, was ein riesiges Motivationsgefühl entfesselt hat und auch eine bestimmte Ernsthaftigkeit in vielen unserer Freund_innen. Es ist überwältigend, die riesige kollektive Bewusstseinsbildung in der kurdischen Gesellschaft zu sehen.

Im Rückblick auf das westliche Leben in den Metropolen, scheint es so offensichtlich, wie Patriarchat und Kapitalismus sich in jeden Winkel unseres Lebens ausgebreitet haben. Ich denke, wir haben riesen Sprünge in unserem Verständnis unserer eigenen Geschichte und Gesellschaft durch die Diskussionen mit unseren Freund_innen der kurdischen Jugendbewegung gemacht. Im Besonderen, hat mir deren Fokus auf Philosophie und Selbstwahrnehmung klar gemacht, wie sehr wir als Anarchist_innen oder radikale Linke durch Moralismus gehandicapt sind. Wir haben gelernt, unser Verhalten an diesen Begriffen von gut/schlecht, richtig/falsch und Schuld/Erbarmen auszurichten, die uns durch Religion und die akademische Welt und Theoriedebatte eingehämmert wurden, statt an unseren tatsächlichen gemeinsamen ethischen Vorstellungen und Freundschaften.Um den Prozess der Selbstbefreiung zu beginnen, müssen wir unsere liberale bürgerliche Persönlichkeit und unser kapitalistisches Verhalten überwinden, um den innerlichen Staat mental zu bezwingen.

Im Kontrast dazu, sind wir in Deutschland und im Westen insgesamt konfrontiert mit internalisiertem Individualismus und Liberalismus, nicht nur in der Gesellschaft insgesamt sondern auch in unserer politischen »Szene« – eine Szene mit einer generellen Tendenz hin zu einem nihilistischen Lifestyle und identitärer Politik. Meiner Beobachtung nach geben die meisten Militanten unserer Szene – so wie der Großteil der liberalen Jugend – der »Freiheit« des Individuums absoluten Vorrang, indem sie einfach in einer Umgebung wo alles erlaubt ist, jedem Drang und jeder Neigung die ihnen gerade unterkommt nachgeben. Gleichzeitig gibt es ein Gefühl des Ausgeliefertseins und daher eine Akzeptanz der vorgegebenen, unveränderbaren Umgebung. Das führt einerseits oft zu einem pessimistischen Empfinden von Lähmung, Hoffnungslosigkeit und Depression, andererseits zu einer schuldgetriebenen Neu-Verankerung in Identitäten, die aus den Machtstrukturen abgeleitet sind, die sie kritisieren (Weiß, Mittelschicht, Privilegiert) und einem Untertauchen in verschiedenen Formen kommerzialisierter Lifestyle-Szenen (Punk, Hardcore, radikale Linke, »Anarchismus«…), die alle aus diesem omnipräsenten Individualismus entspringen und zu ihm führen. Ich denke, es wäre interessant, den Einfluss der 1968er Jugendrebellionen zu analysieren, denn die haben dieser Entwicklung viel Schwung gegeben. Wir sind konfrontiert mit einer Masse von Leuten um uns, die die bewusstseinslose Gesellschaft, Politiker_innen, Cops oder Faschist_innen als Feindbild beschuldigen, aber ihren Bezug zur Realität und ihre eigene Verantwortung und Handlungsfähigkeit komplett verloren haben. Stattdessen leben die meisten von uns weiter das liberale Märchen ökonomischen Erfolgs und einer sicheren Rente, indem sie sich in Studium, Arbeit, Freizeit, privatisierten politischen Aktivismus, Ferien, Partys, Drogen und Konsum-Selbstmord flüchten!

Es ist nur ein schmaler Grad zwischen dieser zeitgenössischen westlichen Konzeption des Anarchismus und dem Liberalismus. Obwohl klassische Anarchist_innen wie Emma Goldman die Notwendigkeit positiver Freiheit, »Freiheit zu«, anerkannten, fokussiert Liberalismus auf negative Freiheit, oder »Freiheit von«, der Vorstellung, dass Menschen frei insofern sind, als dass sie nicht durch Regeln und Gesetze eingeschränkt werden. Dieses Verständnis von Freiheit passt gut in den Ethos von Individualismus, Privateigentum und Kapitalismus und verleugnet komplett die dialektische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und den Fakt, dass Menschen immer schon als soziale Individuen in Communities gelebt haben und durch Regeln und Werte verbunden waren. Wir denken, dass menschliche Werte sozial determiniert sind und dass soziale Regeln und Vorschriften zu ihrer Aufrechterhaltung keine Einschränkung einer zuvor bestehenden Freiheit darstellen, sondern einen Teil der Bedingungen eines freien Lebens darstellen, welches individuelle und kollektive Freiheit beinhalten muss. Als ein Gegenbeispiel zur liberalen »Freiheit« westlicher anarchistischer und radikal linker Szenen lohnt der Hinweis, dass die kurdische Jugendbewegung sehr strikt gegen Drogenhandel und -missbrauch vorgeht, da der türkische Staat offensichtlich versucht, die Bewegung nicht nur durch Tränengas und Inhaftierungen sondern mit allen verfügbaren Möglichkeiten moderner Aufstandsbekämpfung inklusive der Unterstützung von Drogenhandel und Prostitution zu zerstören versucht. Wir denken, es muss eine kollektive Reflexion darüber geben, wie Konsummentalität, Individualismus und andere Formen des Liberalismus als eine Form der Aufstandsbekämpfung wirken und wie sehr wir sie in unsere Denkstrukturen und unser Verhalten aufgenommen haben. Wir müssen Selbstverteidigung organisieren gegen die Angriffe dieser kapitalistischen Ideologien, die uns zu nichts mehr als Konsumierenden und »eigenverantwortlichen« Ich-AGs/Arbeiter_innen reduzieren.

Im Kontrast zu diesen liberalen Illusionen haben uns unsere Erfahrungen mit Genoss_innen der kurdischen Bewegung eine Perspektive auf die Wichtigkeit der auf kollektiven Werten und Ethik statt politischen und identitären Standpunkten fokussierten Auflösung dieser Polarisierung zwischen Individuum und Gesellschaft gegeben. Vom Beispiel der kurdischen Bewegung inspiriert denke ich, sollten wir als Teil des Prozesses der Entwicklung des Selbstbewusstseins, das wir brauchen werden, um das westliche Dilemma mit dem wir konfrontiert sind aufzulösen, unsere Geschichte studieren und sie uns wieder aneignen. Durch die Kritik an der Zivilisation und die Analyse unseres kommunalen und demokratischen Erbes können wir historisches Bewusstsein und Vertrauen in das was wir tun entwickeln. Abdullah Öcalan versuchte in seinen Gefängnisschriften den historischen Hintergrund des kurdischen Kampfes sehr genau zu erforschen, um die Möglichkeit zu haben, ihn mit früheren Erfahrungen revolutionärer Kämpfe zu vergleichen. Viele in der PKK greifen heute auf diese Geschichte zurück, um ihre eigene Ideologie und Strategien kritisch zu reflektieren, weben sie in ihrem Prozess der Selbst-Hinterfragung und der Bildung ihrer eigenen Philosophie der Befreiung – einer revolutionären Mythologie, vielleicht.

Und zur selben Zeit bedeutet das, sich nicht in Nostalgie zu verfangen. Stattdessen ist Inspiration zu ziehen aus der erneuernden Macht der Jugend, aus ständigem fragend Voranschreiten. Habe keine Angst vor Selbstentwicklung; sei offen für Kritik und lerne von den Fehlern anderer. Lass den Prozess revolutionärer Veränderung bei dir beginnen. Vielleicht ist das auch eine ziemlich gute Sache, an die europäische Anarchist_innen denken sollten: Der revolutionäre Prozess ist niemals etwas außerhalb deiner selbst; er muss identisch sein mit deinem eigenen Fortschritt in Richtung Freiheit, sodass du zum symbiotischen Teil einer freien Gesellschaft wirst. Ich denke alle militanten Anarchist_innen sollten unsere historische Verantwortung und die Möglichkeit, unsere gemeinsame Macht und Handlungsfähigkeit zu sammeln annehmen, um eine auf Kreativität, Diversität und Autonomie basierte Gesellschaft aufzubauen und zu verteidigen. Das aber bedeutet, so leben zu müssen, wie wir denken und reden. Also lasst und unsere liberalen Ideen auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgen. Nur dann werden wir fähig sein, uns über die theoretische Vereinbarung »alles zu verändern«, wie ihr es nennen würdet, hinauskommen!


Kurd_innen in der Türkei protestieren in Solidarität mit denen, die in Kobanê kämpfen.

Die Verbindung zwischen Anarchist_innen oder der radikalen Linken und dem kurdischen Befreiungskampf scheint in Deutschland stark zu sein; viele Anarchist_innen sind aktiv in Solidaritätsbemühungen und ziehen viel Inspiration aus Rojava und anderswo in Kurdistan. Könnt ihr über die Geschichte dieser solidarischen Verbundenheit berichten? Wie sehen einige der konkreten Formen aus, die die Solidarität angenommen hat?

Zunächst bildeten sich in Deutschland Solidaritätsgruppen aus der Hausbesetzungsbewegung. Seit den 1990ern gab es auch deutsche Genoss_innen, die am Guerillakampf teilnahmen. Manche davon, wie Shehid Ronahi (Andrea Wolf), starben im Krieg. Sie musste verschwinden, weil sie vom deutschen Staat wegen Aktionen der RAF verfolgt wurde, also schloss sie sich den Reihen der PKK an und kämpfte als Internationalistin. Es gab mehrere deutsche Militante, die sich dem bewaffneten kurdischen Kampf anschlossen, daher gibt es ein paar ältere Genoss_innen, die ihre Erfahrungen teilen und die damaligen Fehler reflektieren können. In den ’90ern gab es von beiden Seiten ausgehend auch viele Probleme zwischen der deutschen Linken und der kurdischen Bewegung. Auf der einen Seite war die PKK noch immer im alten Paradigma verhaftet und so stark auf den Kampf in Kurdistan fokussiert, dass alles andere außen vor bliebt. Das machte es schwer eine richtige freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Auf der anderen Seite bewahrten die Deutschen unser klassisches Muster und hielten Distanz, kritisierten ohne zu verstehen aus einer Arroganz der Metropolen heraus. Als Öcalan inhaftiert wurde und die Bewegung hart um ihr Überleben kämpfte, zerbrach diese schwache Solidarität.

Glücklicherweise begann, als das neue Paradigma aufkam ein neuer, allerdings lange sehr langsamer und zaghafter, Lernprozess. Deutsche Genoss_innen besuchten erneut Kurdistan und knüpften Kontakte mit den Gruppen der Diaspora, während sich andere erneut dem Guerillakampf anschlossen. Die PKK versteht sich selbst als internationalistisch und es ist von großer Bedeutung für beide Seiten, wenn internationale Bindungen gestärkt werden. Es war immer schwer, sich zusammen mit den kurdischen Communities in der Diaspora zu organisieren und ehrlich gesagt ist das noch immer ein Problem. Obwohl ziemlich viele Kurd_innen in Europa leben sind die Verbindungen zwischen ihnen und anderen europäischen Radikalen nicht sehr stark. Das hat verschiedene Ursachen: Eine davon ist der Umstand, dass die deutsche Gesellschaft ziemlich rassistisch ist und viele migrantische Communities sich als eine Art Selbstverteidigungsmechanismus nur mit ihren eigenen Leuten organisieren. Außerdem tendiert der Nationalismus unter den Kurd_innen in der Diaspora stärker ausgeprägt zu sein und die Gesellschaft in der Diaspora ist oft noch immer an feudalen Grundsätzen organisiert. Aber in den 1990ern gab es gemeinsame Demonstrationen und auch heute demonstrieren deutsche und kurdische Gruppen wieder zusammen. Aber auf der Ebene gemeinsamer Selbstorganisierung sind wir noch immer schwach.

Nach der Attacke auf Shengal und der Belagerung von Kobanê im letzten Jahr erhöhte sich die Aufmerksamkeit plötzlich und die gesamte radikale Szene Deutschlands erwachte. Seitdem hat sich langsam etwas zu verschieben begonnen; mehr und mehr Leute versuchen ihren Weg runter nach Rojava zu finden und manche treten in die YPG/YGJ ein.

Welche Vorschläge würdet ihr Anarchist_innen in Nordamerika und sonst wo machen, wie sie vom kurdischen Befreiungskampf lernen und ihre Solidarität zeigen können?

Wir denken, Anarchist_innen sollten den kurdischen Befreiungskampf als ihren eigenen verstehen, als einen internationalistischen Kampf. Die Genoss_innen in Kurdistan zu würdigen kann uns helfen, die liberalen Illusionen zu überwinden, von denen wir sprachen. Es muss eine Anerkennung, ein Bewusstsein über die Verantwortung für das Dilemma im Mittleren Osten geben. Geistige Offenheit und der Wille, sich philosophisch und theoretisch zur Ideologie der Bewegung zu bilden ist wichtig, sodass wir die Möglichkeiten in vielen Sprachen und Farben erfassen können. Das setzt voraus, dass wir den Kampf auch hinsichtlich Kommunikation unterstützen, was ein Teil verschiedener Unterstützungsmöglichkeiten sein kann. Darüber hinaus gab es schon immer eine herzliche Einladung, tatsächlich nach Kurdistan zu gehen um zu lernen, zu kritisieren und Ideen über lokale und internationale Organisierung zu verfeinern. Und wie unsere kurdischen Freund_innen wiederholt betonten, hängt es letztlich von uns in den westlichen Metropolen Lebenden ab, unsere eigenen revolutionären Bewegungen aufzubauen – das wäre die größte Hilfe, die wir ihnen bieten können, denn dies schafft die Möglichkeit gegenseitiger Verteidigung. Außerdem wird praktische Hilfe, soweit wir gehört haben, an verschiedenen Punkten benötigt: technisches Know-How, medizinisches Zeug, und alle Arten praktischer Dinge können hilfreich sein.

Könnt ihr uns ein Update zur jüngsten Welle staatlicher und sonstiger anti-kurdischer Repression in der Türkei geben? Wie reagiert die kurdische Bewegung auf diese Gewalt?

Im Moment befinden wir uns in einer eskalierenden Situation. Als Reaktion auf den massiven Stimmenverlust seiner Partei bei den Parlamentswahlen am 7. Juni erklärte der türkische Präsident Erdogan der kurdischen Bevölkerung den Krieg und beendete damit den von Öcalan 2013 begonnenen Friedensprozess. Seit dem Massaker in der Grenzstadt Suruç, das 34 jungen kurdischen und türkischen Radikalen auf ihrem Weg nach Kobanê Ende Juli ihr Leben raubte, gab es tausende von Inhaftierungen und Bombardements auf PKK Guerillalager sowohl in Bakur (Nordkurdistan/südöstliche Türkei) und in den Medya Verteidigungsgebieten in Bashur (Südkurdistan/Nordirak). Während sich seit Wochen pogromähnliche Angriffe gegen Kurd_innen und andere soziale Bewegungen in Nordkurdistan und der gesamten Türkei ereignen, eskaliert der militärische Konflikt, wobei viele Militante und Zivilist_innen durch den Staat erschossen wurden. Kürzlich belagerte die türkische Arme die Stadt Cizre für eine Woche, während türkische Ultranationalisten Kurd_innen und Büros der HDP (einer kurdischen Partei) im ganzen Land attackierten. Viele kurdische Geschäfte wurden von UnterstützerInnen der AKP, Erdogans konservativer Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, und Mitgliedern faschistischer Organisationen wie der Grauen Wölfe, der Jugendorganisation der Partei der faschistischen Nationalistischen Bewegung niedergebrannt. Ähnliche Attacken gegen Kurd_innen und andere Gegner_innen des Krieges wurden jüngst in Europa verübt und während der deutsche Staat sich bezüglich dieser Attacken durch türkische Nationalist_innen bedeckt hält, wurden kurdische Militante kriminalisiert und Inhaftiert.


Von türkischen Luftschlägen getötete kurdische Zivilist_innen.


Rassistische türkische Nationalist_innen greifen das Hauptquartier der kurdischen HDP an.

Angesichts dieser Gewalt entwickelte die Bewegung ein Modell namens »Theorie der legitimen Selbstverteidigung«, oder »Theorie der Rose«. Das ist eine Metapher, die auf der Idee basiert, dass jedes lebende Wesen seine eigene Schönheit verteidigen muss während es ums Überleben kämpft. Alle Lebewesen müssen Methoden der Selbstverteidigung entwickeln, die zu ihrer Lebensweise passen; zu wachsen und sich mit anderen verbünden – nicht mit dem Ziel, den Gegner zu vernichten, sondern ihn zu zwingen, seine Absicht anzugreifen fallen zu lassen. Guerillakämpfer_innen diskutieren dies als eine defensive Strategie im militärischen Sinne, aber das funktioniert auch in anderen Zusammenhängen. Im Grunde können wir es als eine Methode der Selbstermächtigung verstehen. Lange Zeit taten die PKK Guerillas, unter der Voraussetzung, dass die türkische Regierung die Verhandlungen fortsetzt, nichts, denn sie wussten sie könnten nicht militärisch siegen. Wenn du stark genug bist und deinen Weg gehst, wird es keine Notwendigkeit für Gewalt geben; es wird einfach eine Frage der Organisierung. Dieses Verständnis der Selbstverteidigung ist ebenfalls Teil des neuen Paradigma.

[Mehr Infos zu den aktuellen Entwicklungen: ISKU, ANF – Anmerkung der Übersetzer_innen]

Angesichts des komplexen geopolitischen Zusammenhangs des kurdischen Kampfes – eingesperrt zwischen verschiedenen feindlichen Staaten und bewaffneten Streitkräften – was glaubt ihr, wird eine wirklich antiautoritäre Revolution brauchen, um sich in dieser Region zu festigen und zu bestehen?

Nunja, wie wir aus unserer Beschäftigung mit anderen Revolutionen quer durch die Geschichte gelernt haben: Die einzige Möglichkeit für eine Revolution zu bestehen ist ihre Ausbreitung, die Erweiterung ihres Horizonts und die Überwindung all der Grenzen die gesetzt wurden, sie einzudämmen. Wie unsere kurdischen Genoss_innen erklären, gibt es zwei Säulen revolutionären Kampfes. Die erste und wichtigste ist der Prozess der Bildung demokratischer Autonomie; am Ende geht es einfach darum, wie wir leben möchten, wie wir unsere täglichen Leben organisieren möchten. Gerade jetzt ist es schwierig, diese Frage in den Mittelpunkt zu stellen, weil die ganze Region brennt und im Krieg gefangen ist. Daher ist die zweite Säule die Selbstverteidigung mit allen nötigen Mitteln. Beide sind wesentlich und müssen auf verschiedenen Ebenen angewandt werden. Revolutionäre Erhebungen durch die Geschichte Europas und anderswo, die eine der Säulen vernachlässigten wurden zwangsläufig zerschlagen.

Es ist wirklich wichtig, die revolutionäre Position in Kurdistan zu stärken – nicht nur militärisch, auch durch den Aufbau von Kommunikationsstrukturen mit Genoss_innen in der ganzen Welt. So wie die revolutionäre Erhebung in der Türkei sich ausbreitet und die Unterstützung aus dem Westen wächst, wird es für die regionalen Mächte schwieriger, die kurdische Bewegung anzugreifen. Darüber hinaus sollten wir das enorme Potential erkennen, das uns die Erfahrungen dieser Bewegung für die Erweiterung unserer eigenen Perspektive bieten. Sie organisierten sich in einer Situation die von Anfang an weit verzweifelter war als die unsere und waren dennoch erfolgreich. Ich würde sagen, es ist ein bestimmter Weg des Umgangs mit einer konkreten Gefahr, der sie derart stark gemacht hat. Außerdem wäre es ziemlich produktiv, Erfahrungen auszutauschen. In konkreten Fragen zur Selbstorganisation sind die Methoden und Werkzeuge anarchistischer Bewegungen im Westen ziemlich kreativ und könnten eine Menge Unterstützung bieten.

Gerade jetzt haben wir im Mittleren Osten die außergewöhnliche Situation eines relativen Machtausgleichs – und Rojava liegt im Auge des Sturmes. Da ist die große Vision eines politischen sunnitischen Islam, die hauptsächlich von den Regierungen der Türkei und Saudi Arabiens vorangetrieben wird. Daneben gibt es die schiitischen Staaten des Iran, Irak und die Überreste des Assad-Regime in Syrien. Außerdem die NATO, der die Türkei angehört, die aber auch ihre eigenen Interessen durchsetzt. Dazwischen haben wir zudem den Islamischen Staat (IS), eine Zombie-Armee die von keiner Macht mehr kontrolliert werden kann, obwohl sie möglicherweise erst aufgebaut und unterstützt wurde, um den kurdischen Widerstands und das Regime in Damaskus zu zerschmettern. In dieser chaotischen Situation also ist Rojava noch immer notwendig für die NATO. Zum Beispiel als die einzig verlässliche Option in der Region, die fähig war, dem IS zu trotzen. Ja, insofern ist Rojava irgendwie zwischen all diesen Militärmächten gefangen. Aber wie wir aus vielen Revolutionen gelernt haben, ist Krieg nicht einfach eine Frage der Mathematik. Es ist mehr eine bestimmte Art des Kampfes und eine Frage des Bewusstseins. Daraus sollten wir lernen.

Könnt ihr erklären, was ihr mit dieser »Art des Kampfes« oder der spezielle Form von Bewusstsein im bewaffneten Kampf meint, dass den kurdischen Widerstand ausmacht?

Lass mich eine Geschichte wiedergeben, die mir einst ein Freund erzählte. Er nahm am Kandil-Krieg 2011 teil. Damals gab es eine pragmatische Allianz zwischen der Türkei und dem Iran: Beide hatten ein Problem mit der kurdischen Bewegung und hatten Angst vor den militärischen Möglichkeiten, die die Guerillas hatten. Kandil ist am südlichen Ende der Mediya Verteidigungsgebiete, den durch die Guerillas kontrollierten Bergen in den Grenzregionen des Iran, Irak und der Türkei. Er erzählte mir von einer Situation als anderthalb Tausend Pasdaran, die iranischen Infanterieregimente, versuchten den Hügel zu stürmen auf dem sich die Guerillas verschanzten. Es gab nur etwa 30 Genoss_innen, die ihren Berg verteidigten. Er erklärte, dass, was die iranische Armee gegen sie einzusetzen versuchte, lediglich ihre Kugeln und ihre Angst vor Bestrafung durch ihre Führer war. Sie rannten blindlings den Berg herauf und wurden zurückgeschlagen. Sie hatten keine Überzeugung, keine Kraft und keine Freundschaft untereinander. Auf der anderen Seite, als seine Genoss_innen ihre Position verteidigten, benutzten sie nicht nur ihre Waffen, wie er sagte. Sie kämpften für ihre geplünderten Dörfer, für ihre zerrissenen Familien, mit ihren gefallenen Freund_innen im Kopf, mit der Gewissheit, dass die angreifende Armee die Berge und Wälder hinter ihnen niederbrennen und die Natur ihrer Heimat zerstören würde. Sie kämpften für die, die zu schwach waren es selbst zu tun , für all die Teile der Gesellschaft, die hinter ihnen standen und ihnen den Rücken stärkten. Vielleicht ist es schwer zu verstehen, wenn du es nicht selbst fühlst. Aber ihre Kraft wurde gestärkt durch eine lange Reihe von Freunden, der historischen Erfahrung der Unterdrückung, gegenseitigem Schutz – einer Liebe zum Leben und einem Glauben an sich selbst.

All diese Dinge, so sagte er, stehen an oberster Stelle, wenn du neben deinen Freund_innen auf deinem Posten sitzt und deine Waffen zur Verteidigung erhebst: Dein Vertrauen in deine Genoss_innen, deine Dankbarkeit für die in den Tälern lebenden, die an eine befreite Gesellschaft glauben, die die Felder bestellen, von denen du lebst, deine Traurigkeit über den Horror, den der Staat über deine Freund_innen und Familien brachte. Und am Ende ist da die Kugel, die du denjenigen entgegen schleuderst, die in deine Richtung stolpern. Wie könnten die jemals gewinnen, fragte er lächelnd.

Selbst der_die Kämpfer_in, der_die objektiv am schwächsten ist, kann große Kräfte heraufbeschwören, wenn er_sie um ihretwillen und für jene, denen sein_ihr Herz gehört kämpft ohne in eine Richtung oder Ideologie gedrängt oder gezwungen zu werden, etwas zu tun, dass er_sie nicht will. Die, die für ihre Gesellschaft und die symbiotischen Beziehungen, die sie beschützt und genährt haben, kämpfen, werden immer konventionelle Methoden, die auf schierer Zerstörung, Hegemonie-Interessen und Strategien der Feindseligkeit basieren, schlagen. Das erinnerte mich an die Worte, die einige philosophische Freund_innen aus dem Westen einst sagten: die Realität mit deinen eigenen Sehnsüchten zu verbinden hat revolutionäre Bedeutung. Wenn du wirklich weißt, wofür du kämpfst, wenn du das Wesentliche der Situation in der du steckst begreifst, kannst du das mit deinem Willen zu leben verknüpfen, was dir Schönheit sogar über den Tod hinaus verleiht. Diese Guerillas erklärten mir, dass sie sich als Schützer des Lebens verstehen, die ihre eigenen Fähigkeiten einsetzen, um das Leben ihrer Gesellschaft zu beschützen. Das hat mich sehr beeindruckt.

Das wirft auch die Frage auf: Woher wird die revolutionäre Energie für den Westen kommen? Wir verstehen kaum unsere eigene Situation; gedrängt in pragmatische Entscheidungen in einem komplexen System der Abhängigkeiten. Vielleicht ist das die Lektion, die wir selbst zu lernen haben: Was ist die Wahrheit unserer gemeinsamen Situation, die wir verstehen müssen um zu beginnen? Das ist der gleiche Grund warum derzeit keine andere Armee die Kräfte des IS in Syrien zurück drängen kann. In der Verteidigung von Kobanê hat die YPG/YPJ ihre Verteidigung auf genau dieses Bewusstsein gestützt. Wer konnte schon glauben, dass sie ihre Stadt befreien würden; das geht über Rationalismus hinaus. Es hat mehr zu tun mit Vertrauen in dich selbst und deine revolutionäre Kraft, die aus deiner Leidenschaft zu leben entspringt. Das ist, was beinahe aus dir heraus geprügelt worden wäre, wenn du im westlichen Kapitalismus aufgewachsen bist.

Ein anderer Freund ergänzte, dass, wenn du wirklich eine auf nicht-repressiven Beziehungen basierende neue Gesellschaft aufbauen willst, du versuchst, etwas zu erschaffen, dass es noch nicht gibt. Das gestaltet eine Teil einer neuen Welt, einer anderen Welt. Wie könntest du das je von deinem heutigen Blickwinkel rational verstehen? Es befindet sich nicht in den Büchern. Du musst verrückt werden, um das Bestehende zu überwinden; du musst überzeugt werden von deiner Phantasie und deiner Leidenschaft. Das ist euer Problem in Europa, schloss er: Ihr habt vergessen, wie das geht.

WARUM WIR KEINE FORDERUNGEN STELLEN

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Von Occupy bis Ferguson: Immer wenn eine neue Graswurzelbewegung entsteht, bemängeln Expert*innen, das Fehlen klarer Forderungen. Warum fassen Protestierende ihre Ziele nicht zu einem einheitlichen Programm zusammen? Warum gibt’s da keine Vertreter*innen, die mit den Herrschenden verhandeln können, um konkrete Vorstellungen über institutionelle Wege voranzubringen? Warum können sich diese Bewegungen nicht in vertrauter Sprache und mit angemessenem Anstand ausdrücken?

Oft ist dies die hinterlistige Rhetorik derer, die sich von Bewegungen die Beschränkung auf gesittete Appelle wünschen. Wenn wir einen Plan verfolgen, den sie lieber nicht wahrhaben wollen, erklären sie diesen für irrational oder unschlüssig. Vergleiche den „People‘s Climate March“ letzten Jahres, der 400.000 Personen hinter einer einfachen Botschaft vereinte und so wenig Protest mit sich brachte, dass die Polizei nicht mal eine einzige Person festnehmen musste, mit den Baltimore Riots ab April 2015. Viele priesen den Climate March, während sie die Aufstände in Baltimore als irrational, skrupellos und unwirksam verspotteten; der Climate March hatte jedoch wenig konkrete Auswirkungen, während die Aufstände in Baltimore die Staatsanwaltschaft dazu zwangen, eine beispiellose Menge von Polizist*innen anzuklagen. Du kannst dich darauf verlassen: Würden 400.000 Menschen auf den Klimawandel so reagieren, wie ein paar tausend auf den Mord an Freddie Gray, würden die Politiker*innen ihre Prioritäten anders setzen.

Selbst solche, die aus besten Absichten Forderungen fordern, missverstehen Forderungslosigkeit eher als ein Versäumnis, als eine strategische Entscheidung. Die heutigen forderungslosen Bewegungen sind kein Ausdruck politischer Unreife – sie sind pragmatische Antworten auf die Sackgasse, des gesamten politische Systems.

Wenn es so einfach für die Herrschenden wäre, den Forderungen der Protestierenden nachzukommen, könnte mensch meinen, wir würden mehr davon sehen. Von Obama bis Syriza, war es in der Realität jedoch nicht mal den größten Idealist*innen möglich, ihre Wahlversprechen einzuhalten. Der Fakt, dass nach den Baltimore Riots Freddie Grays Mörder*innen angeklagt wurden, legt nahe, dass die einzige Möglichkeit voranzukommen darin besteht, mit appellativer Politik endgültig zu brechen.

Das Problem ist nicht der Mangel an Forderungen heutiger Bewegungen; das Problem ist die Politik der Forderungen an sich. Wenn wir strukturellen Wandel wollen, sollten wir bei dem Spiel der Mächtigen, innerhalb des parlamentarischen Weges, nicht mitmachen. Wir sollten aufhören Forderungen vorzulegen und anfangen, Ziele zu setzen.

Forderungen zu stellen bringt dich in eine schwächere Verhandlungsposition.

Selbst wenn du nur vor hast, Forderungen zu stellen, begibst du dich in eine schwächere Verhandlungsposition, wenn du von Anfang an sagst, was das Mindeste ist, um dich zufrieden zu stellen. Kein*e geschickte*r Verhandelnde*r startet mit Zugeständnissen. Es ist klüger, unversöhnlich zu scheinen: Du willst dich also einigen? Mach einen Vorschlag. Währenddessen sind wir hier, blockieren wir die Bundesstraße und brennen etwas nieder.

Bei Verhandlungen gibt es kein besseres Druckmittel als die Möglichkeit, Dinge, nach denen wir uns sehnen, direkt an den offiziellen Institutionen vorbei zu realisieren – die wahre Bedeutung von Direkter Aktion. Wann immer uns das gelingt, reißen sich die Herrschenden darum uns alles anzubieten, was wir vorher vergeblich gefordert hatten. Der Schwangerschaftsabbruch in den USA wurde beispielsweise erst (durch die Gerichtsentscheidung im Fall Roe vs. Wade) legalisiert, nachdem Gruppen wie das Jane Collective mittels selbstorganisierter Kollektive zehntausenden Frauen bezahlbare Abbrüche ermöglicht hatten.

Selbstverständlich haben es jene, die die Veränderungen, nach denen sie sich sehnen direkt umzusetzen in der Lage sind nicht nötig, Forderungen an irgendwen zu stellen – und je schneller sie das erkennen, desto besser. Erinnert sei an Bosnien: Dort wurden im Februar 2014 Regierungsgebäude niedergebrannt und dann Versammlungen einberufen um Forderungen an die Regierung zu stellen. Ein Jahr später haben die Menschen für ihre Anstrengungen nichts bekommen außer Strafanzeigen und die Regierung war wiedermal stabil und korrupt wie immer.


Machen und nicht davon reden

Eine Bewegung auf spezifische Forderungen zu reduzieren, erstickt die Vielfalt und legt den Grundstein ihres Scheiterns.

Nach allgemeiner Auffassung braucht eine Bewegung Forderungen, um zusammenzuhalten: ohne Forderungen wäre sie diffus, flüchtig, ineffektiv.

Leute, die verschiedene Forderungen haben oder gar keine, können zusammen dennoch kollektive Macht aufbauen. Wenn wir Bewegungen als Räume des Austauschs, der Koordination und der Aktion begreifen, kann mensch sich leicht vorstellen, wie eine einzige Bewegung eine Vielzahl von Absichten fördern kann. Je horizontaler sie strukturiert ist, desto eher sollte sie in der Lage sein, vielfältige Ziele zu verfolgen.

Tatsächlich sind im Prinzip alle Bewegungen von internen Konflikten über ihre Strukturierung und die Priorisierung ihrer Ziele verdorben. Die Forderung nach Forderungen entsteht üblicherweise als ein Machtkampf von denen, die am meisten in die vorherrschenden Institutionen involviert sind, um jene zu delegitimieren, die sich lieber selbst ermächtigen wollen, als einfach Bitten an die Herrschenden zu stellen. Das verzerrt echte politische Differenzen als bloße Unorganisation und echte Opposition zu den herrschenden Strukturen als politische Naivität.

Eine vielfältige Bewegung zur Reduzierung ihrer Absichten auf wenige bestimmte Forderungen zu zwingen, festigt unweigerlich die Macht in den Händen einer Minderheit. Wer entscheidet, welche Forderungen wichtig sind? Meist sind es dieselben Personengruppen, die anderswo in der Gesellschaft überproportional über Macht verfügen: reiche, überwiegend weiße Professionelle, geübt im Umgang mit Institutionen und Massenmedien. Im Namen der Effizienz werden die Marginalisierten in ihren eigenen Bewegungen wieder an den Rand gedrängt.

Jedoch hat das kaum eine Bewegung je effektiver gemacht. Eine Bewegung mit Raum für Unterschiedlichkeiten kann wachsen; eine Bewegung, die auf Einheitlichkeit basiert, verkümmert. Eine Bewegung, die eine Vielfalt von Vorstellungen integriert, ist flexibel, unberechenbar; es ist schwer, sie zu täuschen, schwer, ihren Akteuren die Autonomie im Austausch gegen ein paar Zugeständnisse abzuringen. Eine Bewegung, die auf Einheitlichkeit durch Reduktion setzt. ist gezwungen, ständig Teile zu marginalisieren, indem sie deren Bedürfnisse und Anliegen unterordnet.

Eine Bewegung, die eine Vielzahl an Perspektiven und Kritiken umfasst, kann umfassendere und vielseitigere Strategien entwickeln, als eine auf einen Aspekt reduzierte Kampagne. Alle dazu zu zwingen sich einer Reihe von Forderungen anzuschließen ist strategisch unklug: selbst wenn es läuft, läuft es nicht.

Eine Bewegung auf spezifische Forderungen zu reduzieren, verkürzt ihre Lebensdauer.

In dieser sich immer schneller verändernden Welt, können Forderungen schon überholt sein, bevor die Kampagne richtig loslegt. Als Reaktion auf den Mord an Michael Brown forderten Reformist*innen, dass die Polizei mit Körperkameras ausgestattet wird – aber bevor diese Kampagne richtig am Laufen war, verkündete eine Grand Jury, dass Eric Garner, der Mörder von Michael Brown, nicht angeklagt wird, obwohl der Mord gefilmt wurde.

Eine Bewegung auf spezifische Forderungen zu beschränken, kann den falschen Anschein erwecken, es gäbe einfache Lösungen für Probleme, die tatsächlich äußerst komplex sind.

„OK, dich regt vieles auf – wem geht das nicht so? Aber sag uns, welche Lösung schlägst du vor?“

Die Forderung nach konkreten Einzelheiten ist verständlich. Es nützt nichts, einfach nur Dampf abzulassen; es kommt darauf an, die Welt zu verändern. Aber für bedeutende Veränderungen braucht es weit mehr als die unbedeutenden Korrekturen, die die Herrschenden leicht zugestehen würden. Wenn wir so tun, als gäbe es einfache Lösungen für die Probleme mit denen wir konfrontiert werden, um uns kein Stück weniger „pragmatisch“ als die Expert*innen des Bestehenden zu geben, bereiten wir, unabhängig davon ob unsere Forderungen erfüllt werden oder nicht, den Weg für unser Scheitern. Das ruft Enttäuschung und Untätigkeit hervor, lange bevor wir das kollektive Vermögen entwickelt haben, uns der Wurzel des Problems zu widmen.

Speziell für jene unter uns, die glauben, dass das grundlegende Problem unserer Gesellschaft die ungleiche Verteilung von Macht und Einfluss ist – und weniger der Bedarf an dieser oder jener politischer Korrektur – ist es ein Fehler, im vergeblichen Versuch, uns zu legitimieren, einfache Heilmittel zu versprechen. Es ist nicht unsere Aufgabe fertiggestellte Lösungen zu präsentieren, für die die Massen am Rande applaudieren können; überlassen wir das den Demagogen. Unsere Herausforderung ist es vielmehr, Räume zu schaffen in denen Lösungen auf dauerhafter und kollektiver Basis diskutiert und direkt umgesetzt werden können. Anstatt Scheinlösungen vorzuschlagen, sollten wir neue Praktiken verbreiten. Wir brauchen keine Blaupausen, sondern eine Ausgangsbasis.

Bewegungen, die auf bestimmten Forderungen basieren, brechen zusammen sobald diese Forderungen von der Realität überholt wurden, während die Probleme, die sie angehen wollten, bestehen bleiben. Selbst aus einer reformistischen Perspektive ist es sinnvoller Bewegungen um die Themen die sie behandeln herum aufzubauen statt um bestimmte Lösungen.

Forderungen zu stellen, setzt voraus, dass du Dinge möchtest, die dein Gegner bewilligen kann.

Andererseits ist zweifelhaft, ob die vorherrschenden Institutionen das meiste von dem was wir wollen gewähren könnten, selbst wenn die Herrschenden Herzen aus Gold hätten. Keine Firmeninitiative wird den Klimawandel aufhalten; keine Regierungsbehörde wird die Überwachung der Bevölkerung stoppen; kein Polizeiapparat wird die Privilegierung Weißer beenden. Nur die Organisierenden von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) halten an der Illusion fest, dass diese Dinge möglich seien – wahrscheinlich, weil ihre Jobs davon abhängen.

Eine Bewegung, die stark genug ist, könnte industrieller Umweltzerstörung, staatlicher Überwachung und institutionalisierter weißer Vorherrschaft Schläge versetzen, aber nur wenn sie sich nicht auf bloßes Bittstellen beschränkt. Forderungsbasierte Politik beschränkt den ganzen Spielraum der Veränderung auf Reformen, die innerhalb der Logik der bestehenden Ordnung liegen, stellt uns an den Rand und verschiebt den wahren Wandel für immer in unerreichbar weite Ferne.

Es macht keinen Sinn, die Herrschenden um Dinge zu bitten, die sie selbst wenn sie wollten nicht gewähren können. Ebenso sollten wir ihnen nicht den Vorwand, liefern, sie müssten noch mehr Macht gewinnen, als sie ohnehin schon haben, um unsere Forderungen zu erfüllen.


Unsere einzige Forderung: legt euch nicht mit uns an!

Etwas von den Herrschenden zu fordern, legitimiert ihre Macht und zentralisiert Handlungsfähigkeit in ihren Händen.

Es ist eine alte Tradition für gemeinnützige Organisationen und linke Bündnisse Forderungen vorzulegen, von denen sie wissen, dass sie niemals bewilligt werden: Steuertricks stoppen, Geld für Menschen statt für Banken, Kohleausstieg jetzt, Finanzmärkte müssen sich an den Interessen der Ärmsten orientieren, Regenwaldabholzung stoppen. Im Austausch für kurze Audienzen mit Bürokrat*innen, die weit gerisseneren Akteur*innen Rede und Antwort stehen müssen, mildern sie ihre Forderungen ab und bringen ihre widerspenstigeren Kolleg*innen dazu, sich zu benehmen. Das ist, was sie Pragmatismus nennen.

Ein solches Vorgehen mag seinen eigentlichen Zweck nicht erreichen, aber eines vollbringt es doch: es festigt eine Erzählung, in der die existierenden Institutionen die einzig denkbaren Akteure einer Veränderung sind. Das wiederum pflastert den Weg für weitere ergebnislose Kampagnen, zusätzliche Wahlspektakel, in denen neue Kandidat*innen für ein Amt junge Idealist*innen täuschen, zusätzliche Jahre der Lähmung in denen die durchschnittliche Person sich nur durch die Vermittlung einer Partei oder Organisation vorstellen kann, selbst Macht auszuüben. Spul das Band zurück und spiel es nochmal ab.

Richtige Selbstbestimmung ist nichts, das uns die Herrschenden bewilligen können. Wir müssen sie entwickeln, indem wir unsere eigenen Stärken ausbauen und uns dabei als Akteur*innen der Geschichte in den Mittelpunkt der Erzählung stellen.

Forderungen zu früh zu stellen kann schon im Voraus den Spielraum einer Bewegung einschränken und das Feld der Möglichkeiten zerstören.

Am Anfang einer Bewegung, wenn die Teilnehmenden noch kein Gefühl von ihrem kollektiven Potential haben, ist ihnen möglicherweise noch nicht klar, wie durchdringend die Veränderungen, die sie wollen wirklich sind. Wenn in diesem Stadium Forderungen formuliert werden, kann dies die Bewegung hemmen, Ehrgeiz und Phantasie der Beteiligten einschränken. Zu Beginn der Beschränkung oder Verwässerung der Ziele den Vorzug zu geben erhöht außerdem die Wahrscheinlichkeit, dass dies wieder und wieder passiert.

Stell dir vor, die Occupy Bewegung in den USA hätte anfangs konkrete Forderungen gestellt – hätte sie dennoch als offener Raum gedient, in dem so viele Menschen sich treffen, ihre Analyse entwickeln und radikalisieren können? Oder hätte sie als ein einzelnes Protestcamp geendet, das sich nur mit der Kritik einzelner Konzerne, Sparmaßnahmen und vielleicht der Federal Reserve beschäftigt? Für die Ziele einer Bewegung ist es besser sich mit der Bewegung selbst zu entwickeln, proportional zu ihrer Stärke.

Forderungen zu stellen installiert Stellvertreter*innen und damit eine interne Hierarchie und gibt diesen einen Anreiz, andere Teilnehmende zu leiten.

In der Praxis bedeutet die Vereinigung einer Bewegung hinter spezifischen Forderungen üblicherweise, dass Sprecher*innen bestimmt werden, die im Namen der Bewegung verhandeln. Selbst wenn diese „demokratisch“ aufgrund ihrer Hingabe und Erfahrung ausgwählt werden, können sie nicht verhindern, aus dieser Rolle heraus Interessen zu entwickeln, die sich von den der anderen Protagonist*innen unterschieden.

Um ihre Glaubwürdigkeit als Verhandelnde zu behaupten, müssen Sprecher*innen dazu in der Lage sein, jene, die ihre Vereinbarungen nicht mittragen, zu befrieden oder zu isolieren. Das gibt ehrgeizigen Führer*innen einen Anreiz zu zeigen, dass sie die Bewegung beherrschen können, in der Hoffnung am Verhandlungstisch zu landen. Gerade die mutigen Seelen, deren kompromisslose Aktionen der Bewegung ihren Einfluss erst verschafft haben, treffen nun auf Karriere-Aktivist*innen, die im Nachhinein dazu gestoßen sind und ihnen erzählen, was sie zu tun haben – oder verneinen gar ihre Zugehörigkeit zur Bewegung. Dieses Drama spielte sich in Ferguson im August 2014 ab, als Teile der dortigen Bevölkerung, die die Bewegung durch die Konfrontation mit der Polizei aufgebaut hatten, von Politiker*innen und Personen des öffentlichen Lebens verleumdet wurden – als Auswärtige, die die Bewegung ausnutzten, um kriminellen Aktivitäten nachzugehen. Das genaue Gegenteil war der Fall: Auswärtige versuchten, die Bewegung zu kapern, die durch ehrenhafte illegale Aktivitäten ausgelöst wurde, um die alten Institutionen der Autorität zu re-legitimieren.

Auf lange Sicht kann diese Art von Befriedung nur zum Niedergang einer Bewegung führen. Dies erklärt die zweideutige Beziehung, die die meisten Führer*innen zu den von ihnen repräsentierten Bewegungen haben: um für die Herrschenden von Nutzen zu sein, muss es ihnen möglich sein, ihre Mitstreiter*innen zu bändigen, aber ihr Dienst wäre überhaupt nicht nötig, wenn die Bewegung keine Bedrohung ausstrahlte. Daher kommt die merkwürdige Mixtur aus militanter Rhetorik und praktischer Behinderung, die solche Leute oft kennzeichnet: Ihre Hunde sollen bellen aber nicht beißen…

Manchmal ist das schlimmste, das einer Bewegung widerfahren kann, dass ihre Forderungen erfüllt werden.

Reformen sind da, um den Status quo zu stabilisieren und zu konservieren, um die Wucht einer sozialen Bewegung zu brechen und sicher zu stellen, dass durchdringender Wandel nicht stattfindet. Kleine Zugeständnisse zu gewähren kann dazu dienen, eine starke Bewegung zu spalten und die weniger engagierten Teilnehmenden zum Gehen oder zum wissentlichen Wegsehen bei der Repression gegen die Unbeugsamen zu bewegen. Solche kleinen Siege werden nur gewährt, weil die Herrschenden in ihr die beste Methode sehen, um größere Veränderungen zu vermeiden.

In Zeiten des Aufruhrs, wenn alles zu haben ist, ist ein Weg eine aufkeimende Revolte zu entschärfen, die Forderungen zu akzeptieren, bevor die Revolte Zeit hat zu eskalieren. Manchmal erscheint dies als ein wahrer Sieg – wie beispielsweise in Slowenien 2013, als zwei Monate des Protests die Regierung stürzten. Das hat die Unruhen beendet, bevor sie die systemischen Probleme, die weit tiefer gingen als die Frage, wer an der Macht ist, angehen konnten, von der sie hervorgerufen wurden. Eine andere Regierung kam an die Macht, während die Demonstrierenden noch von ihrem Erfolg benommen waren – und alles lief wieder wie bisher.

Während des Aufbaus der Revolution 2011 in Ägypten, hat Mubarak mehrfach angeboten, was die Demonstrierenden Tage zuvor forderten; aber als sich die Lage auf den Straßen zuspitzte, wurden die Beteiligten immer unversöhnlicher. Hätte Mubarak schon früher mehr geboten, wäre er möglicherweise noch heute an der Macht. Gewiss scheiterte die Revolution in Ägypten letztlich nicht, weil sie zu viel verlangte, sondern, weil die Veränderungen nicht tiefgehend genug waren: durch das Absetzen des Diktatoren bei unangetasteter Infrastruktur der Armee und des „Tiefen Staates“ haben die Revolutionär*innen die Pforten für die Festigung der Macht neuer Despoten offen gelassen. Für eine erfolgreiche Revolution hätten sie die Struktur des Staates selbst zerstört haben müssen während jede*r noch auf den Straßen war und der Spielraum noch gegeben war. „Die Leute verlangen den Fall des Regimes“ bot eine einfache Plattform um die sich viele scharten, aber bereitete sie nicht darauf vor, es mit den Regime die folgten aufzunehmen.


Es hat in Ägypten nur funktioniert, weil sie nicht nur gefordert haben

2013 in Brasilien half die MPL (Movimento Passe Livre) massive Proteste gegen die Anhebung der Fahrpreise in Bussen und Bahnen auszuweiten; das ist eines der wenigen aktuellen Beispiele einer Bewegung, die ihre Forderungen erfüllt bekam. Millionen nahmen sich die Straßen und die Erhöhung um 20 Cent wurde zurückgezogen. Aktivist*innen aus Brasilien schrieben und referierten über die Wichtigkeit, von konkreten und erreichbaren Forderungen, um durch Erfolge schrittweise zu wachsen. Als nächstes hofften sie, die Regierung dazu zu zwingen, die öffentliche Beförderung kostenlos zu machen.

Warum war ihre Kampagne gegen die Fahrpreiserhöhung erfolgreich? Zu dieser Zeit war Brasilien eine der wenigen Nationen, die einen Wirtschaftsaufschwung erlebten; es hat von der Weltwirtschaftskrise profitiert, indem Gelder aus dem instabilen nordamerikanischen Markt abgezogen wurden. Sonst wo – in Griechenland, Spanien und sogar den USA – standen die Regierungen genau wie die Anti-Austeritäts-Protestierenden mit dem Rücken zur Wand. Die Herrschenden konnten die Forderungen nicht erfüllen, selbst wenn sie gewollt hätten. Es lag nicht am Fehlen konkreter Forderungen, dass keine andere Bewegung solche Zugeständnisse erreichen konnte.

Kaum eineinhalb Jahre später, als die Straßen sich geleeert hatten und die Polizei ihre Macht wieder etabliert hatte, kündigte die Regierung eine weitere Welle von Fahrpreiserhöhungen an – diesmal drastischer. Die MPL musste von vorne anfangen. Das zeigt, dass der Kapitalismus nicht Reform für Reform überwunden werden kann.


Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen in Brasilien: konkrete Forderungen, aber ein Sisyphos-Kampf.

Wenn es dir um Zugeständnisse geht, peile über’s Ziel hinaus.

Selbst wenn du nur wenige kleine Korrekturen innerhalb des Status quo vornehmen möchtest, ist es eine klügere Strategie, strukturellen Wandel als Ziel zu setzen. Oft müssen wir weit höhere Ziele anvisieren, um kleine konkrete Anliegen zu erreichen. Die, die sich Kompromissen verweigern, konfrontieren die Herrschenden mit der lästigen Alternative, sich mit den Reformist*innen zu befassen. Irgendwer wird immer gewillt sein, die Rolle des Verhandelnden zu übernehmen – aber je mehr Menschen sich weigern, desto besser wird die Position der*s Verhandelnden*r werden. Das klassische Beispiel hierfür ist die Beziehung zwischen Martin Luther King, Jr. und Malcolm X: ohne die von Malcolm X erzeugte Bedrohung, hätten die Herrschenden keine derartige Motivation gehabt, mit Dr. King zu verhandeln.

Für jene unter uns, die einen wirklich radikalen Wandel möchten, ist nichts zu holen mit der Verwässerung unserer Sehnsüchte für die Öffentlichkeit. Das Overton-Fenster – der Bereich der Möglichkeiten, die politisch durchsetzbar erscheinen – wird nicht von denen im angeblichen Zentrum des politischen Spektrums bestimmt, sondern von den Außenseiter*innen. Je breiter das Feld der Positionen, desto mehr Handlungsspielraum tut sich auf. Andere werden sich dir wohl nicht sofort anschließen, wenn du eine Position am Rand beziehst, aber wenn andere sehen, dass du diese Position konsequent vertrittst, sind sie eher ermutigt, selbst ehrgeiziger zu handeln.

Rein pragmatisch ausgedrückt sind jene stärker, die eine Vielfalt an Taktiken begrüßen, selbst wenn es darauf ankommt kleinere Erfolge zu erreichen, als jene, die versuchen, sich und andere zu beschränken und jene auszuschließen, die sich weigern sich einschränken zu lassen. Aus der Perspektive einer Langzeitstrategie, ist das Wichtigste jedoch nicht, ob wir ein bestimmtes sofortiges Ergebnis erreichen, sondern wie jedes Gefecht uns für die nächste Runde positioniert. Wenn wir die Fragen, die wir wirklich stellen wollen, auf ewig zurückstellen, wird der richtige Moment niemals kommen. Wir müssen nicht nur Zugeständnisse erringen; wir müssen Fähigkeiten entwickeln.

Auf Forderungen zu verzichten bedeutet nicht, den Raum politischen Diskurses aufzugeben.

Das überzeugendste Argument für das Stellen von konkreten Forderungen ist vielleicht das: Wenn wir es nicht tun, werden andere sie aufgreifen – und den Impuls unserer Erhebung kapern, um deren eigene Ziele voran zu bringen. Was wäre wenn sich Leute um eine liberal-reformistische Plattform scharen oder, wie heute in vielen Teilen Europas, um rechte nationalistische Inhalte, weil wir es versäumen Forderungen zu stellen?

Deutlich veranschaulicht dies die Gefahr, damit zu scheitern, den Leuten mit denen wir die Straße teilen unsere Visionen von Veränderung nahe zu bringen. Es ist ein Fehler unsere Taktiken auszuweiten ohne über unsere Ziele zu reden, als würde jede Konfrontation unweigerlich in Richtung Befreiung tendieren. In der Ukraine, in der dieselben Spannungen und derselbe Impuls, die den Arabischen Frühling und Occupy in den USA produziert haben, eine nationalistische Revolution und einen Bürgerkrieg provoziert haben, sehen wir nun, wie selbst Faschist*innen unsere organisatorischen und taktischen Modelle für ihre eigenen Zwecke nutzen können.

Aber das ist kaum ein Argument, Forderungen an die Herrschenden zu stellen. Wenn wir unsere radikalen Wünsche dagegen immer aus Angst vor dem Verlust eines breiten Publikums hinter einer reformistischen Fassade verstecken, werden jene, die wahre Veränderungen wollen, in die Arme von denen rennen, die als einzige sichtbar den Status quo herausfordern: Nationalist*innen und Faschist*innen.
Wir müssen klar formulieren, was wir wollen und wie wir es erreichen wollen. Nicht um unsere Methoden allen aufzuzwängen, wie es Autoritäre tun, sondern um eine Möglichkeit und ein Beispiel für all jene zu bieten, die einen Weg voran suchen. Nicht um eine Forderung anzubieten, sondern weil dies das Gegenteil einer Forderung ist: Wir wollen Selbstbestimmung, etwas, das uns keine*r geben kann.


Graffiti in London (2012), welches einen Spruch aus dem Mai 1968 in Paris aufgreift

Wenn keine Forderungen, was dann?

Die Art, wie wir analysieren, uns organisieren und kämpfen – sie sollte für sich selbst sprechen. Sie sollte als Einladung dienen, sich uns anzuschließen auf eine andere Art, basierend auf Direkter Aktion statt Bittstellerei, Politik zu machen. Die Leute in Ferguson und Baltimore, die auf den Mord an Michael Brown und Freddie Gray reagierten, indem sie die Polizei angriffen, haben mehr Druck auf das Thema Polizeigewalt ausgeübt, als Jahrzehnte an Bitten um stärkere Überwachung der Polizei durch die Zivilgesellschaft. Indem wir uns Räume nehmen und Ressourcen umverteilen umgehen wir die sinnlose, umständliche Maschinerie der Repräsentation. Wenn wir schon eine Forderung an die Herrschenden richten, dann diese eine einfache: Legt euch nicht mit uns an.

Statt zu fordern sollten wir Ziele setzen. Der Unterschied ist, dass wir Ziele nach unseren eigenen Bedingungen setzen, in unserem eigenen Tempo, wenn sich Möglichkeiten bieten. Sie müssen nicht im Sinne der herrschenden Ordnung sein und ihre Realisierung hängt nicht vom Wohlwollen der Obrigkeit ab. Die Essenz des Reformismus ist, dass selbst, wenn du etwas gewinnst, du keine Kontrolle darüber behältst. Wir sollten die Macht entwickeln, nach unseren eigenen Bedingungen zu agieren, unabhängig von den Institutionen mit denen wir es aufnehmen. Das ist ein langfristiges Projekt, und ein dringendes.

Indem wir unsere Ziele verfolgen und erreichen entwickeln wir das Potential, uns höhere Ziele zu stecken. Das steht in starkem Kontrast dazu, wie reformistische Bewegungen in sich zusammen fallen, wenn ihre Forderungen verwirklicht oder als unrealistisch dargestellt wurden. Unsere Bewegungen werden stärker sein, wenn sie eine Vielzahl an Zielen unterbringen können, solange diese nicht offen widersprüchlich sind. Wenn wir unsere jeweiligen Ziele verstehen, können wir erkennen, wo es sinnvoll ist, zusammenzuarbeiten und wo nicht – eine Klarheit, die nicht entstünde, wenn wir uns mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner begnügten.

Aus diesem Blickwinkel ist der Weg, Forderungen nicht zu stellen, nicht unbedingt ein Zeichen politischer Unreife. Im Gegenteil, kann es eine kluge Weigerung sein , in die gleichen Fallen zu treten, die früheren Generationen die Handlungsfähigkeit raubten. Lasst uns unsere eigene Stärke außerhalb der Käfige und Warteschlangen der repräsentativen Politik erleben – jenseits der Politik der Forderungen.

Vielleicht liegt die Moral der Geschichte (und die Hoffnung der Welt) darin, was eine*r fordert, nicht von anderen, sondern von sich selbst.
– James Baldwin, No Name in the Street

– Text als Broschüre bei black-mosquito.org bestellen

– Text (bald) als druckbare PDF auf anarchistischebibliothek.org

– englisches Original auf crimethinc.com

Anarchismus & Alkohol

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Betrunken, dicht, zu, berauscht, blau, breit, voll, besoffen, knülle. Jeder hat von den Inuit gehört, die einhundert Worte für Schnee haben; wir haben einhundert Worte für betrunken. Wir verewigen unsere eigene Kultur der Niederlage.

Ich sehe das Grinsen auf deinem Gesicht: Sind diese Anarchist*innen so verspannt, dass sie über den einzig spaßigen Aspekt des Anarchismus urteilen – das Bier nach dem Krawall, dem Alkohol in der Kneipe wo all diese leeren Versprechungen verbreitet werden? Was machen die überhaupt um Spaß zu haben – ein schlechtes Bild werfen auf den bisschen Spaß, den wir haben? Können wir nicht einen Moment entspannen und eine gute Zeit haben?

Versteht uns nicht falsch: wir sprechen uns nicht gegen Genuss aus, sondern für ihn. Ambrose Bierce definiert einen Asketen als „eine schwache Person, die der Versuchung erliegt, sich selbst Vergnügen vorzuenthalten“ Wir stimmen zu. Chuck Baudelaire schrieb, du musst immer high sein – alles hängt davon ab. Also sind wir nicht gegen das betrunken sein, aber gegen das Trinken! Alle die trinken, um betrunken zu werden, verwehren sich ein wundervolles Leben.

Koffein oder Zucker ersetzen nur Stoffe, die das Leben selbst erzeugen kann. Der Mensch, der niemals Kaffee trinkt, braucht ihn nicht nach dem Aufstehen: der Körper produziert Energie und weiß diese gezielt einzusetzen. Wenn mensch regelmäßig Koffein zu sich nimmt, übernimmt der Kaffee nach kurzer Zeit diese Funktion und wird abhängig. So sorgt Alkohol künstlich für einen kurzen Zeitraum für Entspannung und Erleichterung während all das verkümmert, was das Leben wirklich erholsam und befreiend macht.

Wenn manche abstinenten Leute in dieser Gesellschaft nicht so unbekümmert und frei erscheinen wie ihr betrunkenes Pendant, ist dies ein reiner Zufall der Kultur, nichts mehr als Indizien. Diese Puritaner existieren in derselben Welt, in der sich durch den Alkoholismus ihrer Freunde, jede Magie und jeder Schöpfergeist aufgelöst haben, unterstützt von Kapitalismus, Hierarchien und dem Leid, die der Alkohol mit aufrecht hält. Der einzige Unterschied ist, dass sie die Dreistigkeit besitzen sich sogar der falschen Magie und des Geistes aus der Flasche zu verwehren. Andere „nüchterne“ Personen, solche die eher in Ekstase leben, gibt es reichlich, wenn du genau hin schaust. Für diese Personen – für uns – ist das Leben eine dauerhafte Feier, die keine Steigerung braucht und von der wir keine Erholung brauchen. Alkohol, Antidepressiva und andere Stimmungsverändernde Drogen die dem Staat viel Geld einbringen, ersetzen eine symptomatische Therapie, die die Krankheit beseitigt, nicht aber deren Ursache. Es nimmt dem stumpfen, düsteren Dasein den Schmerz für eine kurze Zeit und bringt ihn dann mit doppelter Wucht zurück. Drogen ersetzen nicht nur positive Handlungen, die sich an die Wurzel unserer Verzweiflung richten – sie verhindern sie, da mehr Energie darauf gezielt wird, den Zustand des Rauschs zu erreichen und sich anschließend wieder von ihm zu erholen. Wie der Urlaub bei dem*der Arbeiter*in, dient Alkohol als ein Ventil, über das Dampf abgelassen wird, während das System das ihn erzeugt aufrechterhalten bleibt.

In dieser kalten automatisierten Gesellschaft haben wir uns daran gewöhnt, wie Maschinen zu funktionieren, die bedient werden: füge die notwendige Chemikalie zur Gleichung um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Für unsere Suche nach Gesundheit, Freude, dem Sinn des Lebens, rennen wir von einem Wundermittel zum anderen – Viagra, Vitamin C, Vodka – anstatt unser Leben ganzheitlich und unsere Probleme an der sozialen und ökonomischen Wurzel anzugehen. Dies konsumorientierte Denkweise ist das Fundament unserer entfremdeten Konsumgesellschaft: ohne Produkte zu konsumieren, können wir nicht leben! Wir versuchen Entspannung, Gesellschaft und Selbstbewusstsein zu kaufen – jetzt kommt sogar Ekstase durch das Schlucken von Ecstasy!

Wir wollen Ekstase als eine Lebenseinstellung, nicht als eine leberzerstörende Erholung von unserem Leben. „Das Leben ist scheiße, werde betrunken“ ist der Kern des Arguments, das wir von unseren Meistern hören. Wir wiederholen es selbst, aufgrund irgendwelcher beiläufiger und unwichtiger Wahrheiten, auf die es sich vielleicht bezieht – aber wir fallen nicht länger darauf rein! Gegen die Trunkenheit und für den Rausch! Brennt die Schnapsläden nieder und errichtet Spielplätze! Für eine ekstatische Nüchternheit!

Zweifelhafte Rebellion

Praktisch jedes Kind der westlichen Mehrheitsgesellschaft wächst mit Alkohol als der verbotenen Frucht auf, die von den Eltern konsumiert ihnen aber verboten wird. Dieses Verbot macht trinken umso faszinierender für Jugendliche. Sobald diese die Möglichkeit haben, werden sie sich ihrer Unabhängigkeit vergewissern, in dem sie sich über dieses Verbot hinwegsetzten: Welche Ironie. Sie rebellieren indem sie dem Beispiel ihrer Eltern folgen. Dieses scheinheilige Schema ist beispielhaft für die Kindererziehung in dieser Gesellschaft und dient der Reproduktion einer Vielzahl destruktiver Verhaltensweisen, die ansonsten mit Nachdruck von folgenden Generationen abgelehnt würden. Es ist Fakt, dass diese bigotte Moral vieler trinkender Eltern, sich auch in den scheinheiligen Praktiken religiöser Gruppen wiedergespiegelt ist. Sie erzeugt den Anschein einer Gegensätzlichkeit zwischen puritanischen selbstverleugnenden und lebensfrohen, unbekümmerten Trinker*innen Gemeinsam mit „Freunden“ wie Priestern, fragen wir Abstinenzler uns, wer braucht da noch Feinde?

Die Befürworter*innen der aufständischen Betrunkenheit und die Verfechter*innen der verantwortungsvollen Abstinenz sind treue Widersacher*innen. Die Erstere brauchen die letzteren um ihre trostlosen Rituale spaßig erscheinen zu lassen Letzteren brauchen die ersteren um ihre starre Entsagung als gesunden Menschenverstand darzustellen. Eine „ekstatische Nüchternheit“ die sowohl die Trostlosigkeit der einen als auch die Trübheit der anderen bekämpft – falsche Hoffnung und falsche Besonnenheit zugleich – ist analog zum Anarchismus, der beides ablehnt: die falsche Freiheit, des Kapitalismus und die falsche Gemeinschaft, des Kommunismus.

Alkohol und Sex in der „Rape Culture“1

Jetzt mal ehrlich: fast jeder von uns kommt aus einem Elternhaus, indem Sexualität besetztes Gebiet ist oder war. Wir wurden beschämt, zum Schweigen gebracht, verwirrt, konstruiert, programmiert. Einige von uns haben sexualisierte Gewalt erlebt. Wir sind knallhart und nehmen uns unsere Sexualität zurück. Für die meisten von uns ist das allerdings ein langwieriger, komplexer und oft noch nicht abgeschlossener Prozess.

Das bedeutet nicht, dass wir jetzt keinen guten, sicheren, uns gegenseitig unterstützenden Sex haben können. Aber es macht diesen Sex komplizierter. Um das sicherzustellen, versuchen wir der*dem*den Partner*in*nen zu helfen, die unerwünschten, selbstbeschränkenden Angewohnheiten abzulegen. Es sollte uns möglich sein, klar und ehrlich zu kommunizieren, bevor es zur Sache geht – und währenddessen und danach. Kaum etwas wirkt sich so stark auf diese Kommunikation aus, wie Alkohol es tut. In dieser Kultur der Verleugnung nutzen wir Alkohol als soziales Gleitmittel um unsere Hemmungen beiseite zu schieben. Meist bedeutet dies, dass wir unsere Ängste und Narben ignorieren und andere nicht nach den ihren zu fragen. Wenn es uns gefährlich – wenn auch schön – für uns ist, mit anderen nüchtern Sex zu haben, wie viel gefährlicher muss es sein, es betrunken und rücksichtslos zu tun.

Es ist bemerkenswert, welche unterstützende Wirkung Alkohol auf die patriarchale Geschlechterordnung hat. Beispielsweise – in wie vielen Kleinfamilien hat Alkohol dazu beitragen, eine ungleiche Verteilung von Gewalt und Druck aufrechtzuerhalten? (Alle Schreiber*innen dieses

Abschnitts können mehr als ein Beispiel allein innerhalb deren Verwandtschaft geben.) Die betrunkene Selbstzerstörung des Mannes*, mag sie auch erzeugt sein durch das Entsetzen die ein überleben innerhalb des Kapitalismus eben hervorbringt, erlegt der Frau* noch eine größere Belastung auf, die eben nach wie vor die Familie zusammenhalten muss – oft zusätzlich der Gewalt des Mannes ausgesetzt.

Die Tyrannei der Gleichgültigkeit

„Jedes einzelne verfluchte anarchistische Projekt, an welchem ich beteiligt war wurde durch Alkohol entweder komplett oder beinahe ruiniert. Mensch etabliert eine kollektivistische Lebensumgebung und alle sind zu besoffen oder zu breit um sich an Hausarbeiten zu beteiligen, geschweige denn sich an einen respektvollen Umgang zu halten. Mensch will Gemeinschaften gründen, aber abends verschwinden alle in ihren Zimmern und trinken sich zu Tode. Wenn es nicht der eine verdammte Stoff ist, ist es ein anderer. Ich kann es nachvollziehen, wenn Menschen, die in dieser entfremdeten kapitalistischen Hölle aufgewachsen sind, ihr Bewusstsein auslöschen wollen, aber ich will, dass diese Leute sehen, was wir Anarchist*innen tun und sagen: ‚Ja, das ist besser als Kapitalismus!‘ … was allerdings ziemlich schwer sein dürfte, wenn mensch nicht mal einen Fuß vor den anderen setzen kann, ohne auf zerbrochene Bierflaschen zu treten. Ich habe mich nie als straight-edge verstanden, aber scheiße nochmal, es steht mir bis hier!“

Es heißt, als der berühmte Anarchist Oscar Wilde zum ersten Mal den Slogan „wenn es beschämend ist, bestimmt zu werden, wie viel beschämender muss es dann sein seinen*ihren Bestimmer auszuwählen“ hörte, darauf antwortete: „Wenn es beschämend ist, den eigenen Meister auszuwählen, wie viel beschämender muss es dann sein selbst der eigene Meister zu sein!“ Er meinte das sowohl als Kritik an Hierarchien an sich, als auch als Kritik am demokratischen Staat – leider kann diese geistreiche Bemerkung auch für so manch anarchistische Idee stehen, wenn diese in die Tat umgesetzt werden. Dies ist speziell dann wahr, wenn diese von Betrunkenen ausgeführt werden.

In gewissen Kreisen, speziell in jenen, in denen das Wort „Anarchie“ eher einen Lifestylecharakter hat anstelle seiner eigentlichen Bedeutung, wird Freiheit negativ verstanden: „Sag mir nicht, was ich zu tun habe!“ Faktisch bedeutet dies meist nichts anderes, als den Anspruch einer Person, faul, egoistisch und unverantwortlich sein zu dürfen. Unter solchen Umständen bedeutet es für eine Gruppe, wenn diese sich auf ein Projekt einigt, dass die Umsetzung an einer kleinen Minderheit hängenbleibt, die sich dafür verantwortlich fühlt. Diese wenigen Gewissenhaften wirken oft selbstherrlich – während es die Gleichgültigkeit und Feindlichkeit ihrer Freund*innen ist, die sie dazu zwingt, diese Rolle zu übernehmen. Die ganze Zeit betrunken und undiszipliniert zu sein, zwingt andere dazu, deinen Dreck weg zu räumen, den Stress abzufangen, der durch dein Verhalten verursacht wurde, wenn du zu betrunken für einen Dialog bist. Die andere Person ist daran natürlich mit Schuld – sie nimmt alle Verantwortung auf ihre Schultern, wodurch ein Verhaltensmuster aufrechterhalten wird, in dem die einen alle Verantwortung tragen und die anderen keine – aber jede*r ist in diesen Mustern verantwortlich für sich selbst dafür sie abzulegen.

Denke an die Kraft, die wir haben könnten, wenn all die Energie und Anstrengung auf der Welt – oder vielleicht auch nur deine Energie und Anstrengung? – die beim Trinken draufgeht, in den Widerstand, in etwas Bauen und Erschaffen gesteckt wird. Versuche all das Geld, dass Anarchist*innen deiner Gemeinschaft zur Umsatzsteigerung von Spirituosenhersteller*innen versoffen haben, zusammen zu zählen und stell dir vor, wie viele Instrumente oder Kautionen für Gefangene oder Volksküchen damit hätten bezahlt werden können – anstatt ihren Krieg gegen uns zu finanzieren. Besser: stell dir vor in einer Welt zu leben in der kokainabhängige Präsident*innen an einer Überdosis sterben, während radikale Musiker*innen und Rebell*innen uralt werden.

Nüchternheit & Solidarität

Wie jede Entscheidung für eine Lebensweise, sei es Landstreicherei oder Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, so wird auch die Enthaltsamkeit von Alkohol manchmal eher als ein Zweck missverstanden, anstatt sie als ein Mittel zu sehen.

In erster Linie ist es wichtig, dass unsere eigenen Entscheidungen kein Vorwand sind, uns über andere zu erheben. Die einzige Strategie, Ideen zu verbreiten, die immer funktioniert (und das gilt für hitzköpfige, entfremdende Abhandlungen wie diese genauso) ist die Macht des Beispiels – wenn du „ekstatische Nüchternheit“ in deinem Leben in die Tat umsetzt und es funktioniert, werden es dir Leute nachmachen, die ähnliches wollen. Über Leute wegen ihrer Entscheidungen zu urteilen, die nur sie selbst betreffen, wirkt abstoßend auf jede anarchistisch lebende Person – ganz abgesehen davon, dass es unwahrscheinlicher wird, dass er*sie sich deinen Ideen zuwendet.

Die Frage nach der Solidarität und Gemeinschaft mit Anarchist*innen und anderen, die Alkohol und andere Drogen benutzen. Wir meinen, dass diese Frage von äußerster Wichtigkeit ist. Speziell bei jenen, die versuchen sich von unerwünschten Abhängigkeiten zu befreien, ist Solidarität vorrangig: Anonymen Alkoholiker zum Beispiel ist nur eine weiterer Fall einer fast schon religiösen Organisation, die ein weiteres der sozialen Bedürfnisse bedienen, worum sich eigentlich eine anarchistische selbstverwaltete Gesellschaft kümmern sollte. Wir sollten wir uns fragen, ob wir diese Position beziehen, weil wir uns erhaben über den vermeintlichen Pöbel fühlen wollen – oder wollen wir nicht lieber anwendbare Alternativen propagieren? Außerdem können die meisten von uns, die nicht drogenabhängig sind, dankbar dafür sein; das gibt uns umso mehr Verantwortung, ein*e gute*r Verbündete*r zu sein für jene die diese Privilegien oder dieses Glück nicht hatten – egal mit welchen Bedingungen sie auf die Welt kamen. Lass Toleranz, Bescheidenheit, Zugänglichkeit und Einfühlungsvermögen die Eigenschaften sein, die wir bei uns fördern, und nicht Selbstgerechtigkeit oder Stolz. Keine sektiererische Nüchternheit!

Revolution

Wie dem auch sei – was machen wir wenn wir nicht in Kneipen gehen, auf Partys sind oder vor dem Fernseher unser Bier aus Plastikflaschen trinken? Wir machen alles andere!

Die sozialen Auswirkungen der Fixierung unserer Gesellschaft auf Alkohol, ist mindestens so bedeutend wie deren psychische, medizinische, ökonomische und emotionale Auswirkungen. Trinken normt unsere Geselligkeit und füllt einige unserer Stunden, die wir nicht mit Arbeit und schlafen füllen. Alkohol beschränkt uns räumlich – Wohnzimmer, Kneipen, nahe zum Kiosk – und kontextbezogen – rituelles, vorhersehbares Verhalten – auf eine Weise, wie es offensichtlichere Kontrollsysteme niemals könnten. Wenn eine*r von uns es doch mal schafft, aus der Rolle als Arbeiter*in / Konsument*in auszubrechen, ist Alkohol oftmals das hartnäckige Überbleibsel aus unserer Freizeit von damals, das den vielversprechenden Zeitraum füllt, der sich öffnet. Von diesen Routinen befreit, könnten wir andere Möglichkeiten finden, unsere Zeit zu verbringen und uns zu Vergnügen. Möglichkeiten, die dem System der Entfremdung gefährlich werden.

Trinken kann natürlich auch zufällig an positiven und anspruchsvollen gesellschaftlichen Zusammentreffen teilhaben – das Problem ist hier allerdings die zentrale Rolle, die dem Trinken aktuell in der Sozialisierung zukommt, durch die Trinken geradezu als die Voraussetzung für sozialen Umgang und gesellschaftliche Anlässe umgedeutet wird. Dies verschleiert die Tatsache, dass wir solchen Umgang nach Belieben erzeugen können. Und zwar mit nicht mehr als unserer eigenen Kreativität, Ehrlichkeit, und Kühnheit. In der Tat ist ohne diese Eigenschaften ist nichts von Wert möglich. Warst du jemals auf einer schlechten Party? Für diese, brauchst du keinen Alkohol.

Es erscheint sinnlos, wenn ein oder zwei Personen aufhören zu trinken. Als würden sie sich von der Gesellschaft (oder zumindest den Gewohnheiten) ihrer Mitmenschen für nichts abkapseln. Aber eine Gemeinschaft solcher Leute, kann eine radikale Kultur von nüchternen Abenteuern und Gemeinschaftlichkeit entwickeln. Eine Kultur, die auch spannende Möglichkeiten für alkoholfreie Aktivitäten und Heiterkeit für alle liefern kann. Die Langweiler*innen und Einzelgänger*innen von gestern könnten die Pionier*innen der Welt von morgen sein: „nüchternes Beisammensein“ ist ein neuer Horizont, eine neue Möglichkeit der Überschreitung und Umgestaltung die einen Nährboden für unvorstellbare Aufstände bieten kann. Wie jede revolutionäre Lebensweise, bietet auch die abstinente einen sofortigen Einblick in eine andere Welt, während sie dabei hilft einen Rahmen für Aktionen zu erschaffen, die die weltweite Realisierung einer solchen Welt beschleunigen.

Keine Cocktails außer Molotowcocktails!

Lasst uns nichts brennen, außer Leidenschaft für Aufstände!

Nachsatz: Wie dieser Text zu lesen ist

Mit etwas Glück war es dir möglich zu erkennen – vielleicht sogar durch den Nebel des betrunkenen Stumpfsinns – dass dies sowohl eine Karikatur der Polemik in anarchistischer Tradition, als auch ein ernsthaftes Stück ist. Es ist wichtig hervorzuheben, dass Polemiken oft die Aufmerksamkeit auf ihre Thesen lenken, da sie bewusst extreme Positionen einnehmen, um den Weg für „moderatere“ Positionen zu ebnen. Hoffentlich kannst du nützliche Erkenntnisse aus deiner Interpretation dieses Textes gewinnen, anstatt ihn als Heilsbotschaft oder Tirade aufzunehmen.

Das bedeutet nicht, dass es keine Idiot*innen gibt, die den Rausch ablehnen – aber kannst du dir vorstellen wie viel unerträglicher die Welt wäre, würden sie es nicht tun? Die langweiligen wären noch immer langweilig, nur lauter langweilig; die selbstgerechten würden weiterhin Leute verbal angreifen und belehren, während sie ihre Opfer bespucken und besabbern. Es ist eine fast allgemeingültige Eigenschaft von Trinker*innen, dass sie alle um sie herum zum Trinken ermutigen. Die scheinheiligen Machtkämpfe zwischen Partner*innen, aber auch Eltern und Kindern ausgenommen – sie sich wünschen, dass ihre eigenen Entscheidungen in den Entscheidungsprozess aller berücksichtigt werden. Wir sollten auf die gewaltige Gefahr hinweisen, der jede*r Ideologe*Ideologin und Missionar*in vom Christentum über den Marxismus bis hin zum Anarchismus ausgesetzt sein kann – sie können nicht ruhen, bis der letzte Mensch die Welt genau wie sie sieht. Wenn du diesen Text liest, versuche gegen diese Gefahr anzukämpfen – und versuche dies nicht als Ausdruck unserer selbst zu sehen, sondern in der Tradition der besten anarchistischen Werke, als eine Erinnerung für alle zu verstehen, die sich damit befassen wollen, dass eine andere Welt möglich ist.
Vorhersehbare Ausschlusserklärung

Wie in jedem CrimethInc. Text, vertritt dieser nur die Perspektive von den Personen, die damit zurzeit übereinstimmen, nicht dem „ganzen CrimethInc. Ex-Workers‘ Kollektiv“ oder einer anderen abstrakten Masse. Eine*r der*die wichtige Arbeit unter dem Label CrimethInc. macht, betrinkt sich bestimmt während ich das schreibe – und das ist in Ordnung!

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  1. Soziale Milieus oder Gesellschaften, in denen sexuelle Gewalt und Vergewaltigung verbreitet sind und weitgehend toleriert oder geduldet werden. [zurück]

Vorträge: Widerstand in der Trump-Ära

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Kleine Vortragstour mit CrimethInc. – kurz bevor in Hamburg der G20 (mit Trump als Gast) statt findet.

Wie konnte Donald Trump an die Macht kommen und was sagt uns das über die Zeit in der wir leben? Und welche Strategien bieten sich an, um zunehmend repressiven Regierungen und einem stärker werdenden Graswurzelnationalismus die Stirn zu bieten?

Ordnet man Trumps Präsidentschaft in einen globalen Kontext ein, stößt man in unterschiedlichen Teilen der USA auf Annäherung an Selbstorganisation und -Verteidigung durch Anarchisten und Andere. Unmittelbar nach Trumps Wahlsieg machten sich Anarchisten daran das politische Tagesgeschäft zu stören, in der Hoffnung, die herrschende Klasse zu schwächen bevor diese weitere repressive Maßnahmen ergreifen konnte. In dem ersten Wochen von Trumps Präsidentschaft ging eine große Protestwelle durch das Land und erreichte dieses Ziel vorübergehend. Nun, da Trumps Verwaltung sich um eine Neuausrichtung des Staatswesens bemüht und faschistische Bewegungen Morgenluft schnuppern, sehen sich die Widerstandsbewegungen neuen Gefahren ausgesetzt, stehen aber auch vor neuen Möglichkeiten.

28.06. – Duisburg / Syntopia / Fb-Event
29.06. – Düsseldorf / Linkes Zentrum / Homepage
30.06. – Wuppertal / AZ Wuppertal / Homepage Veranstaltungsort
01.07. – Flensburg / Infoladen Subtilus / Homepage Veranstalter
02.07. – Hamburg / Centro Sociale / Veranstaltungsreihe Bücher Bildung Barrikaden
10.07. – Münster / SpecOps / Homepage Veranstalter

Die Razzia im G20 Camp: Eine Fabel von Gewalt und Betrug.

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Was die Razzia über die kommenden Polizeistaaten aussagt.

Die Woche des Widerstands gegen den G20 Gipfel in Hamburg hat einen aufschlussreichen Start hingelegt. Ein langer Kampf vor den Gerichten endete vor dem Bundesverfassungsgericht, welches dem Antikapitalistischen Camp das Recht zusprach eben dieses in Hamburg zu errichten. Als das Camp schließlich anfing dieses Recht auszuüben, blockierte die Polizei dennoch den Zugang zum Park und verstieß direkt gegen den Gerichtsbeschluss. Nachdem die Menschen später auf das Gelände gelassen wurden, wurde dies von einem massiven Polizeiaufgebot gestürmt, die Campenden angegriffen und eingekreist, einige ihrer Besitztümer wurden beschlagnahmt. Der folgende, persönliche Bericht illustriert die Welt, die die G20 repräsentieren – eine Welt in der „friedlicher Protest“ und Gerichtsverfahren nur zur Ablenkung der Naiven dienen und in der im Endeffekt die Launen der Sicherheitskräfte bestimmen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Leute vorbereiten um sich dem G20 zu widersetzen.

Was im Entwerder Park passiert ist.

Die passive Demonstration gemeinnütziger Organisationen am Sonntag war explizit nicht gegen die Herrschenden des G20 gerichtet, sondern lediglich ein Appell an ihre Politik – als ob bloßes Schilder hochhalten irgendeinen Einfluss auf die Politik von Staaten haben könnte. Die wirklichen Demonstrationen sind später diese Woche, während des Gipfels selber, angekündigt.

Wir kommen am späten Nachmittag zum Entwerder Park. Hunderte motivierte Camper*innen haben sich an den Toren des Parks versammelt und werden von Ketten hochgerüsteter Polizist*innen abgehalten. Die Polizei hat die angrenzende Gegend mit Panzerfahrzeugen überschwemmt, blockiert die Straße und stoppt jedes Fahrzeug zukünftiger Camper*innen und auch von allen anderen, die ihnen verdächtig erscheinen. Die Camper*innen haben eine temporäre Versammlung vor den Toren aufgebaut, es gibt leckeres Gulasch für alle die wollen und es wird beratschlagt was zu tun ist. Es gibt eine beachtliche Wut darüber, dass die Polizei die Anweisungen des Gerichts – uns in den Park zu lassen – missachtet, konkrete Handlungsvorschläge gibt es allerdings nicht. Trotz der polizeilichen Rhetorik von „Gewalttätern“ und „Krawallmachern“ war keine*r von uns auf eine Konfrontation vorbereitet.

Es macht keinen Sinn darüber mit den Polizist*innen selber zu diskutieren. Ihre Ausdrücke sind leer: Ihre leeren Augen starren durch uns durch als ob wir nicht da wären. Die Rekrutierungswerbung auf den Panzerfahrzeugen zeigen hippe, junge Deutsche mit androgynen Haarschnitten und merkwürdig gefühllosen und gleichzeitig desinteressierten frischen Gesichtern. Ich errege die Aufmerksamkeit meiner Freund*innen, zeige auf das Poster und meine ‚vorher‘, um dann auf einen ergrauten, älteren Polizisten zu deuten, in dessen gequälter Visage sich die Konsequenzen des jahrelangen Gehorchen abzeichnen, und schließe mit ‚danach‘.
Die Polizei geht weiter resolut vor und etabliert neue Kontrollpunkte an der Straße zum Tor. Sie stellen sich in mehreren Reihen in den Weg um jede*n abzuhalten, der*die den angehenden Camper*innen mehr Essen bringen will – augenscheinlich wirft wer Äpfel über ihre Köpfe hinweg zu den Camper*innen. Miese Terroristen sind das!
Eine Hamburgerin erzählt mir, dass dies, obwohl diese Woche Polizei aus ganz Deutschland hier sein wird, die lokale Hamburger Polizei ist. Sie kennt sie persönlich von Demos in Hamburg – einer von ihnen brach ihr den Kiefer, um darauf hin sie wieder bei einer späteren Demo zu schlagen.
Wir schwärmen in der Gegend aus um nach anderen Zugängen zu der Versammlung vor dem Tor zu suchen. Es gibt tatsächlich einige Wege, die von der Polizei ungeachtet blieben. Statt sich auf die Orte zu konzentrieren, die sie blockieren oder apathisch rum zu sitzen, sollten wir versuchen an den Rändern zu suchen, außerhalb ihrer Aufmerksamkeit. Sie werden niemals alles komplett kontrollieren können.
Als wir jedoch schlussendlich zum Eingang des Parks zurück kehren, hat sich die Polizei zurück gezogen. Die Polizist*innen, die in kleinen Gruppen am Rand des Torweges stehen sehen ein bisschen kleinlaut aus, während Camper*innen freudig an ihnen vorbeiziehen. Hat nach alledem der Chef der Cops nachgegeben und sich darauf besonnen das Gerichtsurteil auszuhalten? Wir applaudieren als einer der Wagen mit Versorgungsgütern an uns vorbei durch das Tor fährt. Die Fahrer*innen hatten stundenlang, umzingelt von Riotcops, gewartet.
Freudige Camper*innen, die bereits ein großes Zelt aufgebaut hatten, nehmen dieses an jeder Stange und transportieren es als Ganzes über die Schwelle des Tors in den Park. Dies ist die lebendige und heitere Welt, die wir hoffen aufzubauen.

Auf dem Weg in den Park passieren wir dutzende weitere Panzerfahrzeuge und einige weitere Hundertschaften der Riot-Polizei, die brav in Formation stehen. Uns beginnt klar zu werden, wie viele von ihnen sich hier versammelt haben. Einige Gruppen von ihnen umzingeln das Feld im Park auf dem das Camp entstehen soll. Nichtsdestotrotz herrscht feierliche Stimmung während Leute das Gebiet eröffnen. Die praktisch denkenden Protestler*innen haben schon einiges an Baumaterialien vorbereitet. Wir essen, reden und spekulieren was die Woche wohl bringen wird. Als es beginnt Nacht zu werden, ziehen sich die Polizist*innen in Richtung der einzigen Zufahrt vom Feld zurück. Hauen sie endlich ab? Werden die Campenden endlich ein bisschen Zeit haben zu relaxen und zur Ruhe zu kommen?
Nein – sie hauen nicht ab. Sie sammeln sich am Ende des Feldes, auf dem Weg Richtung Tor.
Einige von uns gehen rüber um einen Blick zu riskieren. Es sind inzwischen hunderte, identisch in ihrer Ausrüstung und Reihe nach Reihe nach Reihe aufgestellt. Pistolen, Knüppel und Pfefferspray hängen an ihren Gürteln. Sie stecken alle von Kopf bis Fuß in hochmoderner Sicherheitsrüstung, jeweils im Wert mehrere tausend Euro, gezahlt vom pflichtbewussten Steuerzahler*innen, die sich nicht genau dafür interessieren, was Deutschland alles mit ihrem hart verdienten Einkommen anstellt. Die Polizisten im Hintergrund haben sich bereits ihre Helme aufgesetzt.
Sie stellen ein Panzerfahrzeug mit Lautersprecheranlage vor ihre erste Reihe. Menschen mit Erkrankungen oder traumatischen Erlebnissen geraten bei der Suche nach Auswegen aus dem Park in Panik. Der Rest von uns geht nach vorne. Keine*r von uns ist erpicht darauf schon am Anfang der Woche festgenommen zu werden, wir wissen aber auch, dass, wenn wir jetzt Angst zeigen, wir die Polizei nur daran bestärken werden die gesamte restliche Woche Demonstrant*innen zu schikanieren und anzugreifen. Wir entscheiden uns nicht dafür ein Camp zu verteidigen – wir entscheiden uns dafür unsere Möglichkeit überhaupt zu demonstrieren zu verteidigen. Wenn wir den zugeworfenen Fehdehandschuh nicht aufnehmen, geben wir unsere Freiheit auf.
Eine Durchsage kommt kreischend durch die Boxen auf dem Polizeiwagen: ein Mann mit hoch-klingender, nasaler Stimme bedroht uns. Die Leute pfeifen und schreien ihn zurück an. Einer der Campenden macht eine Gegen-Durchsage von dem Wagen mit dem Soundsystem und die Leute applaudieren.
Die Polizei macht eine zweite Durchsage. Die Anspannung steigt in der aufkommenden Dunkelheit: werden wir alle in den Knast kommen? Dann machen sie eine dritte Durchsage und die Sturmtruppen marschieren ein. Wir hören die widerlichen Geräusche, von ihren Stiefeln die im Einklang auf den Boden stampfen.
Wir sammeln uns um den Lautsprecherwagen und die Zelte, bilden eigene Ketten. Die Polizei marschiert um uns herum, umzingelt uns und kommt dann näher. Sie erreichen den Lautsprecherwagen und greifen die Leute um ihn herum an. Das Chaos sorgt für Verwirrung – das Geschreie, die Geräusche von Schlägen und das Pfefferspray um uns herum.
Eine Person ist auf der Rückseite des Lautsprecherwagens, dort wo das Soundsystem ist. Ein Polizist sprüht im direkt eine volle Ladung Pfefferspray ins Gesicht, dann greift die Polizei nach ihm, zieht ihn raus aus dem Wagen und auf den Boden. Mehrere Polizisten versammeln sich um ihn herum und treten mit ihren schweren Stiefeln auf ihn ein. Sie treten ihn in die Rippen, gegen die Knie, ins Genick, auf den Kopf. Sie machen das ruhig, robotermässig und lassen ihn schlussendlich geblendet, keuchend und gekrümmt vor Schmerz dort liegen.
Sie haben nicht einen Versuch gemacht ihn festzunehmen. Wie der Rest der Campenden hat er keinerlei Verbrechen begangen.
Sanis eilen zu jenen, die es aus dem Polizeikessel geschafft haben. Krankenwagen tauchen auf, in der Vorhausahnung, das es schwere oder bleibende Verletzungen geben könnte. Die Polizei schwenkt ihr Stabkameras umher, die mit blendendem Licht ausgestattet sind. „Warum filmt ihr?“ ruft einer der Campenden.
„Wir filmen nicht“, antwortet der Kamera schwenkende Polizist.
Eine Ewigkeit und eine halbe Stunde später, marschiert die Polizei in Formation zurück – in ihrem Besitz befinden sich nun einige Zelte. All das um Demonstrant*innen zu terrorisieren, um zu zeigen das brutale Gewalt alles ist, was in Hamburg zählt.

Welcome to Hell, Indeed.

„Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt. Unaufhörlich.“ (George Orwell, 1984)

Die Polizei versucht eine Vision der Hölle auf Erden zu realisieren. In der Weltsicht, die sie repräsentieren, ist die gesamte Menschheit suspekt, schuldig potenziell ungehorsam zu sein und nur durch die permanente Drohung mit Gewalt auf Linie zu halten. Freier Wille ist eine Belastung in einer Welt in der der einzig vorstellbare Sinn in der Erfüllung von Befehlen im Austausch gegen ein Gehalt steckt. Die Polizei ist der Mörder der Freiheit.
Das schlimmste an der Polizei ist, das sie versuchen uns die Vorstellung von irgendetwas anderem als von dem was sie repräsentieren und durchsetzen zu entziehen. Darum ist es ihnen zig Euro wert so eine Operation durchzuführen, nur um einige Zelte zu beschlagnahmen. Wenn sie uns angreifen – wenn sie uns mit Fäusten und Knüppeln schlagen, wenn sie uns ein-pfeffern oder mit Tränengas eindecken, wenn sie uns tasern, wenn sie Blendgranaten, Gummigeschosse oder scharf beschießen – ist das wirkliche Ziel nicht unser Körper, sondern unser Glauben an die Menschheit. Sie versuchen jede Hoffnung darauf, dass sich Menschen unter gleichen Bedingungen zu einander beziehen könnten aus uns heraus zu knüppeln und hinterlassen lediglich die hässliche Gleichung von Autorität, Gehorsam und Gewalt. Sie repräsentieren das allerschlimmste zu dem unsere Spezies in der Lage ist – käufliche Gleichgültigkeit – und hoffen darauf diese Ausnahme zur Norm zu erheben.
Das ist nicht überraschend. Ihre Lügen über die „menschliche Natur“ bieten das einzige Narrativ, dass vielleicht ihr Verhalten entschuldigen würde. Wir für unseren Teil wissen, dass die menschliche Natur, sollte es so etwas geben, vielfältig genug ist, um viele Möglichkeiten, viele verschiedene Wege zu sein und sich in Beziehung zu setzen, zu beinhalten.
Die Herren dieser Polizei – die Herrschenden des G20, die sich diese Woche in Hamburg treffen – repräsentieren eine politische Klasse, die keine Ahnung mehr hat wie sie auf die momentanen Probleme reagieren soll, außer mit immer mehr Zwangsmaßnahmen. Die Heuchelei, dass wir uns in Richtung einer freieren und schöneren Zukunft bewegen ist vorbei, statt dessen bewegen wir uns in eine Klimakatastrophe, zerrissen durch Bürger*innenkriege, aufgeteilt zwischen Diktaturen und immer schwächeren Vortäuschungen von Demokratie. Daher müssen die G20 sich auch immer mehr auf die Polizei verlassen, in dem Ausmaß, dass sie sie Staatspolitik in Missachtung der Gerichte machen lassen. Ohne die Vertreter der rohen Gewalt auf ihrer Seite wäre die herrschende Klasse verloren und das ist ihnen bewusst.
In diesem Sinne ist der Polizeistaat bereits etabliert.
Wenn Donald Trump explizit Gewalt gegen Journalist*innen befürwortet und diese von anderen Republikanischen Politikern ausgeführt wird, dann ist die Maske sehr deutlich gefallen. In Nationen, die sich noch immer stolz demokratisch nennen, werden solche Politiker (und ihre Apologet*innen, von denen sich manche als ihre Gegner*innen darstellen) die Protestierenden versuchen zu überzeugen, dass die einzige Art für sie „demokratisch“ legitimiert zu sein bedeutet, den Gesetzen zu gehorchen und passiv jede Zumutung der Polizei zu akzeptieren. Zur selben Zeit bauen die Autoritäten selber eilig die Herrschaft ihrer brachialen Gewalt aus. Wenn sie Erfolg dabei haben uns zu überzeugen passiv zu bleiben, wird die Zukunft sicher unverhohlene Tyrannei sein.
Täuscht euch nicht: wenn es Zusammenstöße in Hamburg in dieser Woche gibt, wenn irgendwer es nach eigenem ermessen für sich selber als richtig erachtet sich gegen die Polizei zu verteidigen, die sich hier zu zehntausenden versammelt hat um alle zu unterdrücken, die sich nicht ordnungshörig ihren Anweisungen untergeben, dann liegt die Verantwortung bei den sogenannten Ordnungshütern. Sie haben angefangen, durch den unbegründeten Angriff auf das Camp in Entenwerder, dadurch, dass sie Hamburg in ein Trainingsgelände für massenhafte Polizeigewalt verwandeln und dadurch, dass sie solche Schlägertypen wie die Berliner Polizei überhaupt erst zusammengesammelt haben. Die Demonstrierenden gegen den G20 kämpfen für ihre Leben. Sie kämpfen für unser aller Leben, für den Planeten, den wir gemeinsam teilen – und sie kämpfen aus der Güte ihrer Herzen. Auf der anderen Seite sehen wir die Polizei, die ihre Verantwortung im Austausch gegen dreißig Silberlinge ablegt. Alles, was jede*r tun kam um sich ihnen und den Strategien zur Weltherrschaft zu widersetzen, alles was Räume der Freiheit erschafft bedeutet Loyalität zu allem, was gut an der Menschheit ist.
Dennoch werden die Veränderungen nach denen wir streben nicht einfach durch symmetrische Konflikte mit der Polizei oder mit FaschistInnen gewonnen. Vor allem müssen wir es möglich machen an das freiste und schönste unserer Spezies zu glauben, selbst wenn die Autoritäten danach streben dies zu verbergen. Wir müssen unsere Träume ansteckend machen, so dass eines Tages die Polizei sich umzingelt und isoliert wiederfindet; als letzte, die ihrem grauenhaftem Programm anhängen. Wir müssen Räume der Freude und Heilung schaffen, in denen auch sie eines Tages ihre schandhafte Oberfläche ablegen und zu etwas schönem und freien werden können.

Postskript: Eine Notiz zu Strategie

Der Park war eine Falle. Die Polizei hat uns nicht reingelassen, weil das Gericht unser Recht dazu durchgesetzt hat, sondern weil sie uns so umzingeln, kontrollieren und brutal behandeln konnten. Vielleicht hätten wir außerhalb der Polizeiketten bleiben sollen. Wenn der Staat über eine so hohe Anzahl an Polizist*innen, wie bei diesem Gipfel, verfügen kann, dann zahlt es sich nicht aus und umzingeln zu lassen. Es ist besser an den Rändern ihrer Kontrolle zu bleiben, sie die ganze Zeit dazu zu zwingen sich weiter zu verbreiten, ihre Ressourcen dadurch dünner werden zu lassen und Situationen zu schaffen, in denen sie sich nicht weiter helfen können ohne die gesamte Bevölkerung gegen sich aufzubringen. An den Rändern ihrer Kontrollzonen sind unsere kleineren Gruppen kein Problem – im Gegenteil, sie können dazu führen, dass es ihnen schwerer fällt uns zu folgen, es ihnen schwerer fällt vorauszusagen was wir tun werden. Wenn die Autoritäten immer größere Gebiete kontrollieren müssen wird ihre Anzahl und Stärke zum Hinderniss. Dies provoziert die Öffentlichkeit, was weitere Demographien und Variablen in den Konflikt einbringt.
Die Strategie der Verteilung hat während des G20 Gipfels 2009 in Pittsburgh gut funktioniert, als die Demonstrierenden durch die Stadt los zogen, weg von den Mauern der Riot-Polizei, die den Gipfel umringten. Als die Polizei realisierte was vor sich ging und sich sammelte um in großen Teilen der Stadt die Kontrolle wieder zu erlangen, brachten sie viele Pittsburgher*innen gegen sich auf. Dies führte zu einer Serie von neuen Zusammenstößen in welchen Einkaufsstraßen demoliert wurden, die Polizei an Legitimität in der Öffentlichkeit verlor und durch die viele Leute, die zuvor nicht an so etwas beteiligt waren, politisiert wurden. Wenn wir statt ins Camp zu gehen am Rand geblieben wären, hätten wir vielleicht etwas ähnliches erreicht. Zumindest hätten wir die Aufmerksamkeit der Polizei von den unglückseligen Campenden abgezogen. Es gab lediglich einen einzigen Zugangspunkt für all die Polizeifahrzeuge zu dem Park – hätten wir diesen blockiert, hätten wir sie sicher dazu gezwungen ihre Aufmerksamkeit vom Camp auf die Stadt um sie herum zu lenken. In einer feindlichen Umgebung, die ihren Gipfel auf keinen Fall haben will und die sie als Besatzer*innen sieht. Vielleicht können diese Reflektionen in den nächsten Tagen nützlich sein.

[Anmerkung des Übersetzers: es handelt sich hierbei um eine sehr freie und leicht gekürzte Übersetzung. Auf Hyperlinks und weitere Bilder des Originaltextes wurde aus Zeitgründen verzichtet. Sie können im Original eingesehen werden. Aktuelle Infos zum G20 werdet ihr auch auf crimethinc.com lesen können, Übersetzungen und eigene Tweets schickt die BM Crew auf Twitter.]


„Solidarität mit der Polizei!“

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„Solidarität mit der Polizei“

Über die Ausreden, die die Polizeigewalt in Hamburg legitimieren sollen.

Wenn die Regierung 20.000 Polizist_innen in einer Stadt versammelt, um Demonstrationen mit Gewalt zu unterdrücken und die Menschen sich in Reaktion darauf verteidigen, braucht es schon eine ordentlich faschistoide Grundhaltung, um zu argumentieren, dass das Problem der „Linksextremismus“ ist. Dies ist schierer Opportunismus. Die verwendete Strategie ist einfach: verbreite Angst, terrorisiere die Bevölkerung und wenn es jemand wagt Widerstand zu leisten, dann verwende dies als einen Vorwand, um noch mehr gewalttätige Repression zu fordern. Jede_r, die/der in Hamburg war, weiß, dass es die Polizei war, die zuerst zugeschlagen hat, als sie fast eine Woche vor Beginn des G20-Gipfels grundlos Übergriffe durchführte.

Sicher, einige Anarchist_innen und andere Gegner_innen des Totalitarismus waren von außerhalb angereist, um die lokalen Vorbereitungen gegen den G20-Gipfel zu unterstützen. Viele Menschen betrachteten es als ungerecht, dass der Gipfel einer Stadt aufgezwungen wurde, die ihn nicht wollte – ein typisches Beispiel dafür, wie das Regelwerk der G20 unwilligen Bevölkerungen aufgezwungen wird. Und nachdem mensch die Polizeiarbeit während des G20 sehen konnte, wer könnte es jemandem übel nehmen, Solidarität mit den Bewohner_innen Hamburgs zeigen zu wollen?

Aber – hätten tausend „Linksextremisten“, bewaffnet mit nichts als den Steinen unter ihren Füßen, 20.000 von Kopf bis Fuß gepanzerte und mit Wasserwerfern ausgerüstete Polizist_innen besiegen können? Selbstverständlich nicht. Es brauchte zehntausende von Menschen, um die Polizei zurückzudrängen – und eine große Anzahl von ihnen waren Hamburger Bürger_innen, und keine „Linksextremisten“. Auch wenn einige Menschen mit der Absicht zu den Demonstrationen gekommen waren Dinge zu zerstören, konnte sich die Lage nur so weit zuspitzen, weil so viele „normale Menschen“ mitgemacht haben.

Viele der Menschen, die an den Kämpfen in Hamburg teilgenommen haben, sind nicht als erklärte Gegner_innen der Polizei zum G20 gekommen. Erst als sie die Gewalt und das unfaire Verhalten der Polizei am Donnerstag, den 6 Juli sahen, verstanden sie, dass sie sich für eine Seite entscheiden mussten. Deshalb war der Widerstand am Freitag, den 7. Juli, in der zweiten Nacht der Zusammenstöße so viel stärker. Samstag Nacht, am Ende des 8. Juli, hatten die meisten Aktivist_innen bereits die Straßen verlassen und nur die Hamburger_innen, die in den vorangegangenen 48 Stunden in den Konflikt gezogen worden waren, blieben noch übrig.

Trotz all dessen versuchen Politiker_innen, Mainstreammedien und Rechtspopulisten die Reaktionen, die durch die unbarmherzige polizeiliche Repression hervorgerufen wurden, zu verwenden, um eben diese Repression im Nachhinein zu rechtfertigen. Der Bürgermeister Hamburgs Olaf Scholz ging sogar so weit zu behaupten, dass es keine Polizeigewalt gegeben habe. Sie lügen dich unverblümt an: zynischer weise gehen sie davon aus, dass du nicht in Hamburg warst und dass du alles glauben wirst, was sie dir erzählen. Zum Beispiel wissen alle, die in der Nacht des 7. Juli im Schanzenviertel waren, als die Polizei für ein paar Stunden aus dem Viertel gedrängt wurde, dass es innerhalb der Barrikaden viel sicherer war als in den Stadtteilen, in denen die Polizei weiterhin Menschen angegriffen hat. Als die Polizei zurück in das Viertel kam, berichten Sanitäter_innen davon, dass sie und die Verletzen, die sie gerade in einem Haus versorgten, mit scharfen Waffen bedroht wurden. Nichtsdestotrotz: wenn Politiker_innen und Mainstreammedien von „Gewalt“ sprechen, meinen sie damit nicht Polizisten die drohen Leute zu erschießen. Sie meinen auch nicht Tränengasgranaten, Wasserwerfer, Pfefferspray, Polizeikessel oder Polizist_innen, die Gefangene schlagen. Sie meinen die Reaktionen der Menschen auf diese Dinge.

In diesem Sinne nannte die konservative Bild die Polizei „Helden“, um ihren fragwürdigen öffentlichen Dienst zu würdigen, bei dem sie jeden Befehl, Menschen brutal anzugreifen, ausführten, um ihr Gehalt zu erhalten – und forderte ihre Leser_innen dazu auf „Solidarität mit der Polizei“ zu zeigen.

Solidarität mit der Polizei! Nimm einen Knüppel und verprügle dich selbst! Öffne einen Hydrant, halte dein Gesicht rein und spiele Wasserwerfer! Nimm scharfes Chili und reibe es dir ins Auge! Lege die Straßen in deiner Nachbarschaft still, halte deine Nachbar_innen in ihren Häusern gefangen – und verlange dafür Geld! Und dann überreiche dir selbst eine Medaille dafür, dass du so ein guter Bürger bist!

Die Bild animierte ihre Leser_innen dazu Geld für die Polizei zu sammeln. Es scheint also nicht ausreichend zu sein, dass diese Schläger, die herum rennen und Leute schlagen und einpfeffern, bereits von deinen Steuern bezahlt werden – nein, sie verdienen anscheinend sogar noch mehr Geld. Vielleicht sollte noch wer eine Solidaritätskampagne mit den G20 AnführerInnen organisieren, damit wir alle Donald Trump noch ein bisschen extra Geld aus unserer eigenen Tasche geben können? Sicher werden die Milliardäre und die ihnen dienenden Polizisten nicht genug Geld haben, bis jeder einzelne Cop in seinem eigenen Wasserwerfer durch die Gegend fahren und die Welt in Pfefferspray einnebeln kann.

An anderer Stelle in der Bild erfahren wir, dass fast 500 Polizist_innen während des G20 verletzt wurden. Das ist eine reine Lüge: relativ schnell kam heraus, dass es sich nur um 231 verletzte Polizist_innen handelte, von denen nur 21 nicht direkt wieder ihre Pflicht ausüben konnten. In dieser Statistik sind zudem 130 Polizisten aus Hessen enthalten, die in ihr eigenes Gas rannten. Es wird nun Mitgefühl von uns erwartet für Polizisten, die sich mit den selben Waffen verletzen, die sie gegen alle anderen anwenden, wobei sie die einzigen sind, die staatlich bezahlte Schutzkleidung dagegen trugen!

Was ist mit den anderen 101 verletzten Polizist_innen? Es wäre spannend zu erfahren wie viele davon sich selbst beim Schlagen, Treten oder auf der Jagd nach Demonstrant_innen verletzt haben – und wie viele von denen durch „friendly fire“ ihrer Kollegen verletzt wurden. Und nochmal: dabei waren sie alle durch eine mehrere tausend Euro teure Ausrüstung geschützt, im Gegensatz zu den Opfern ihrer Angriffe.

In jedem Fall – wenn es so gefährlich ist, herum zu rennen und eine größtenteils unbewaffnete Bevölkerung brutal einzupfeffern und einzuschüchtern, dann wäre es vielleicht besser es einfach bleiben zu lassen. Wenn die Autoritäten wirklich um das Wohlergehen ihrer Beamten besorgt wären, dann hätten sie sie vielleicht nicht dazu bringen sollen die Zivilbevölkerung zusammen zuschlagen.

Die selbe verlogene Bild interviewt einen Polizisten, der angibt während der G20 Proteste nur eine Stunde in zwei Nächten geschlafen zu haben. Das wirklich verwunderliche daran ist, dass überhaupt einer dieser Polizisten je schlafen kann! Wenn sich irgendeine_r von uns als Söldner_in verkaufen würde und dann die Zivilbevölkerung schlagen und demütigen müsste, würde unser Gewissen dafür sorgen, dass wir kein Auge mehr zu kriegen, in keiner Nacht.

Wir können hier die Folterknechte dabei beobachten wie sie Sympathien für einen Nietnagel beim zuschrauben der Daumenschraube erwarten – den großen Inquisitor, der sich darüber beschwert sich beim Anzünden einer Hexe den Finger verbrannt zu haben. Sicherlich ist es ein harter Job, wenn mensch die ganze Zeit ein Arschloch zu allen sein muss – aber niemand muss Bulle sein.

Es steht fest, dass die Welt der G20 ohne Gewalt wie diese gar nicht erst möglich wäre. Es lässt sich keine äußerst unpopuläre Ordnung ohne Tränengas und Wasserwerfer aufzwingen. Die Polizeigewalt in Hamburg hat gezeigt, dass Merkel und Macron keine wirkliche Alternative zu Trump, Putin und Erdogan darstellen. Sie alle verlassen sich auf die selben Polizeitaktiken, auf die Ausübung brutaler Gewalt. Die Erfahrungen auf der Empfängerseite ihrer Regierungen werden immer identischer: steigende Überwachung, Kontrolle und Brutalität.

Also – wenn du siehst wie Sturmtruppen Menschen verletzen, identifizierst du dich dann mit den Sturmtruppen oder den Menschen? Dies ist eine der wesentlichen politischen Fragen des 21. Jahrhunderts. Auf der einen Seite versammelt diese Frage Politiker_innen und Expert_innen aller Richtungen, zusammen mit Polizisten und erklärten FaschistInnen. Auf der anderen Seite versammelt sie Anarchist_innen, Rebellen und gewöhnliche Menschen, die die Tyrannei auf der Straße ablehnen.

Die Fronten sind klar.

“Fenster klirren und ihr schreit, Menschen sterben und ihr schweigt!”

Interview und Bildergalerie: Gord Hill, indigener Künstler und Anarchist

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Gord Hill ist ein anarchistischer Künstler und Angehöriger der Kwakwaka‘awakw-Nation, der seit Jahrzehnten in antikolonialen und antikapitalistischen Kämpfen aktiv ist. Im Laufe der Jahre wurde seine Kunst und Kritik für uns zur Quelle, aus der wir Inspiration geschöpft haben, uns jedoch auch half, uns in Frage zu stellen. Gord ist Autor zweier Comicbücher, Fünf Jahrhunderte indigener Widerstand (Comic) und Antikapitalistischer Widerstand sowie des Werks 500 Jahre indigener Widerstand. Außerdem betreibt er die Homepage Warrior Publications. Darüber hinaus zeichnet und schreibt er unter dem Pseudonym Zig Zag.

CrimethInc: Es liegt auf der Hand, dass es schon immer Überschneidungen zwischen Kunst und Widerstand gegeben hat, wir würden jedoch gerne von dir hören, wie du diese Überschneidungen bei dir selbst siehst und wo sie in der heutigen Gesellschaft anzutreffen sind.

Gord Hill: Ich denke Kunst ist insofern ein wichtiger Teil von Widerstand, als dass sie zur Herausbildung einer allgemeinen Widerstandskultur beiträgt. Kunst inspiriert, bildet, motiviert und hilft dabei zugleich, eine Geschichte des Widerstands aufrecht zu erhalten.
Dank der modernen Kommunikationsmedien – mit neuen Ausdrucksformen wie etwa Memes und GIFs – spielt Kunst heute womöglich eine noch größere Rolle in sozialen Bewegungen, obgleich ich sagen muss, dass diese neuen Formen flüchtiger erscheinen als klassische Kunstformen wie Plakate, Transparente, T-Shirts usw.
Mein Hauptaugenmerk gilt der bildenden Kunst, aber ich denke, dass es wichtig ist, die Stärke anderer Medien – wie etwa Literatur und Musik – ebenfalls anzuerkennen, die allesamt ihren Anteil am Aufbau und Erhalt einer Kultur des Widerstands haben.


Sind die ästhetischen Entscheidungen, die du in deinen Werken triffst, politisch per se?

In manchen Fällen ja, weil ich bewusst Bilder verwende, die – wie ich hoffe – empowernd oder inspirierend wirken. Ich arbeite auch häufig mit ikonischen Bildern konkreter Aktionen oder Ereignisse. Bilder also, mit denen Menschen bereits vertraut sein dürften und die helfen meinen Kunstwerken Originalität einzuhauchen.
Ein anderes Beispiel sind Sprüche auf Transparenten, die eine Botschaft vermitteln, besonders bei Comics, bei denen ich sehr begrenzt Platz für Text habe. Ich verwende ebenfalls sehr bewusst Bilder, um militante Aktionen zu „normalisieren“, beispielsweise wenn ich vermummte Personen zeichne, die Teil einer Kundgebung oder Protestaktion sind.

Gibt es andere Künstler*innen oder Traditionen, von denen du dich politisch oder ästhetisch hast inspirieren lassen?

Klar… es gibt einige Künstler*innen, die mich inspiriert haben, darunter Louis Karoniaktajeh Hall (der Mohawk-Künstler, der die Fahne der Krieger*innen entworfen und „The Warrior’s Handbook“ geschrieben hat), Art Wilson (ein Gitxsan-Künstler, der in seinem Buch publizierter Drucke mit dem Titel Heartbeat of the Earth: A First Nations Artist Records Injustice and Resistance für die Darstellung aktueller Kämpfe auf traditionelle Kunstsformen der Nordwestküste zurückgreift), Joe Sacco (der die Palästina-Comics zeichnete), und auch traditionellere indigene Künstler*innen, darunter Tony Hunt (Kwakwaka’wakw) und Mark Henderson (Kwakwaka’wakw).
Comic-Künstler*innen der alten Schule, die mich inspiriert haben, sind Jack Kirby, Alex Toth, Berni Wrightson, Alex Nino und Frank Frazetta.

Kannst du als Künstler und Historiker etwas über die Unterschiede zwischen geschriebener Geschichte und mündlicher Überlieferung sagen und wie die Verwendung von Bildsprache mit diesen Verfahren interagieren könnte?

Geschriebene Geschichte ist für Historiker*innen nützlich, weil sie Daten, Namen und Orte bereitstellt, welche beim Verständnis chronologischer Geschichtsabläufe hilfreich sind. Aus diesen Chronologien können wir beispielsweise den Ablauf von Kolonialisierung oder die Ausweitung eines Imperiums nachvollziehen.
Die europäischen Staaten erschienen nicht aus dem Nichts, sondern waren das Ergebnis einer langen Geschichte der Kolonialisierung durch die Römer*innen und Jahrhunderte des Kriegs zwischen feudalen Königreichen, die nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs aufkamen. Diese Geschichte – viel davon wurde von Zeitzeug*innen festgehalten – ist für uns hilfreich, um zu verstehen wie die Welt, in der wir heute leben, geschaffen wurde. Die mündlich überlieferte Geschichte von indigenen Menschen wurde als Sagenwelt oder in Fantasiebildern geschildert. Aber heute wissen wir, dass Ereignisse, die in mündlich überlieferter Geschichte erzählt wurden, tatsächlich reale Gegebenheiten sind, welche sich ereignet haben.
Beispielsweise gibt es weit verbreitete mündlich überlieferte Geschichten von einem Erdbeben und Tsunami aus dem 18. Jahrhundert entlang der Nordwestküste, über welche Wissenschaftler*innen jetzt als tatsächlich stattgefundene Ereignisse Bescheid wissen und die erhebliche Zerstörungen in vielen Dörfern zur Folge hatten. Die mündlich überlieferte Geschichte dieses Ereignisses schildert es als Ergebnis von Handlungen spiritueller Kräfte. Bis Wissenschaftler*innen die Geschichten mit aktuellen Ereignissen verknüpften, wurden sie im Allgemeinen als Sagen abgetan.
Im Kontext mündlich überlieferter Geschichte lässt sich sagen, dass Indigene viele Formen hatten, diese Geschichten zu schildern: mithilfe von Abbildungen wie beispielsweise Piktogrammen, mit Malereien, Perl- und Schnitzarbeit. Lieder und Tänze stellten eine weitere Form dar, mündlich überlieferte Geschichte weiterzugeben.
Heute gibt es Beispiele mündlich überlieferter Geschichte,welche immer noch verwendet werden, einschließlich Dichtung und Hip Hop. Selbst Videos mit Interviews und Erfahrungsberichten lassen sich als mündlich überlieferte Geschichte begreifen.
Ich bin der Meinung, dass Comics einen guten „Mittelweg“ darstellen. Sie kombinieren geschriebene Geschichte mit grafischen Darstellungen.

Wo siehst du Überschneidungen zwischen indigenen und anarchistischen Kämpfen?

Ich würde sagen sie treffen sich im Widerstand gegen Staat und Kapital, welcher von indigenen Menschen als antikolonialer bzw. antikapitalistischer Widerstand verstanden wird. Und es mag sein, dass das antikapitalistische Konzept dabei weniger stark ausgeprägt ist als das antikoloniale… Ich denke, dies ist vielleicht die größte Überschneidung, aber es gibt auch Konzepte wie beispielsweise antiautoritäre oder egalitäre Organisationsformen. Und obgleich sich das graduell je nach indigener Nation unterscheidet, ist es insgesamt (mit wenigen Ausnahmen) ein bedeutender Teil unserer traditionellen Kultur.

Was können nicht-indigene Anarchist*innen von indigenen Kämpfen lernen und wie können sie diese unterstützen?

Indem sie die Geschichte des europäischen Kolonialismus kennen und dies bei ihren Analysen und Aktionen berücksichtigen.

Von welchen Bewegungen aus der Vergangenheit hast du am meisten gelernt?

Ich würde sagen eindeutig von der 68er-Generation: Die American Indian und Red Power Movements, die Black Panthers ebenso wie die schwarzen Bürgerrechtskämpfe der 1950er bis 1960er, die Zapatistas. Ich wurde ebenfalls von den autonomen Bewegungen in Europa inspiriert und lernte besonders viel von jenen in Italien und Westdeutschland.

Warst du schon einmal hin und her gerissen zwischen deiner Rolle als Künstler und deiner Verantwortung für andere Formen politischen Widerstands? Falls ja, wie hast du dieses Dilemma aufgelöst?

Nein, ich war noch nie zwischen Künstlersein und anderen Formen des politischen Widerstands hin und her gerissen… Alles ist Teil einer Vielfalt an Strategien, und ich glaube, dass Propaganda ein zentraler Bestandteil von Widerstandsbewegungen und des Aufbaus widerständiger Kulturen darstellt. Allerdings bin ich auch der Überzeugung, dass Menschen, die künstlerisch, schriftstellerisch oder in anderer Form propagandistisch tätig sind, Teil einer konkreten Bewegung sein müssen, wenn sie nicht den Kontakt zum Geschehen sowie zu aktuellen Entwicklungen verlieren möchten.

Das Thema politischer Strategien hat dich im Laufe der Jahre immer wieder beschäftigt. Hast du den Eindruck, dass die Debatten in indigenen Zusammenhängen und in nicht-indigenen Kreisen Ähnlichkeiten aufweisen? Hast du im Laufe der Jahre Veränderungen bei diesen Diskussionen beobachtet?

In mancherlei Hinsicht ähneln sich die Strategiediskussionen durchaus. Beispielsweise gibt es in manchen Teilen der indigenen Bewegungen Diskussionen über das Tragen von Vermummung und die Durchführung von illegalen direkten Aktionen. Es gibt Diskussionen um Militanz, die Versorgung von Blockaden und Besetzungen, über Fragen der Sicherheit und Gegenüberwachung. Ich denke nicht, dass sich diese Diskussionen im Laufe der Jahre verändert haben, seit – sagen wir mal – der Oka-Krise von 1990. Stattdessen tauchen sie je nach Konjunktur der Bewegung irgendwann auf und verschwinden dann wieder. Veränderungen hat es vor allem in Bezug auf das Thema Internetsicherheit und die Verwendung von sozialen Medien wie Facebook gegeben. Gerade letzteres Medium wird sehr viel benutzt, aber eben auch von den Cops zu Ermittlungszwecken und zur Anklageerhebung.

Der Kampf gegen die Dakota Access Pipeline (NoDAPL) bei Standing Rock ist wohl der bekannteste Kampf nach indigener Souveränität, den wir in der letzten Zeit gesehen haben. Glaubst du, es gibt wichtige theoretische oder strategische Lehren aus der Art, wie sich dieser Kampf abgespielt hat?

Ja, ich würde behaupten die NoDAPL-Kampagne war sehr wichtig aus einer Vielzahl von Gründen. Während es eine Anzahl an Anti-Pipeline-Kampagnen in Kanada gab – und in British Columbia im Besonderen – war dies der erste Kampf gegen eine geplante Pipeline, der zum Zeitpunkt des Baubeginns stattfand. In Kanada wurde die geplante Enbridge Northern Gateway Pipeline letztendlich nach einigen Jahren indigenen Widerstands bereits im Planungsstadium aufgeben. Und die Naturgas-Pipeline, die durch Unis‘tot‘en-Land geplant war, sollte schließlich doch nicht dort gebaut werden. Deshalb war die NoDAPL-Kampagne die erste, die aktiv den Bau einer Pipeline verhinderte.
Ich glaube, dass die NoDAPL-Kampagne besonders für Natives in den USA sehr wichtig war, und ich bin sicher Tausende indigener Jugendlicher wurden bis zu einem gewissen Grad während ihrer Teilnahme radikalisiert.
Letztlich missglückte die NoDAPL-Kampagne jedoch. Ich würde vermuten, dies passierte aus mehreren Gründen. Der Hauptgrund war, dass der Widerstand – trotz einiger militanter Aktionen – hauptsächlich aus den „gewaltfreiem Widerstand“ und pazifistischen Aktionsformen setzte.
Neben den Mangel an Erfahrung von Seiten der Angehörigen des Standing-Rock-Reservats waren es hauptsächlich NGO-Hauptamtliche, die die Strategiediskussionen beherrschten und jeglichen Versuch unterbanden, einen Aktionskonsens zu finden, der auf einer Vielzahl von Taktiken beruhte.
Als Gegenbeispiel möchte ich auf den Widerstand verweisen, der 2013 von den Mi‘kmaq in New Brunswick gegen Vorarbeiten für Fracking-Verfahren organisiert wurde. Sie hatten keine Tausende Leute, die sich zusammenfanden. Sie hatten keine Berühmtheiten, die daran teilnahmen. Und sie hatten keine Zehntausende von Dollar zur Verfügung. Sie mobilisierten ihre Gemeinschaft und nach einem kurzen Versuch des gewaltfreien, zivilen Ungehorsams organisierten sie militantere Sachen, darunter Sabotage-Aktionen und Straßenblockaden.
Ihre Hauptblockade wurde von der Polizei im Oktober 2013 geräumt, was sechs abgefackelte Polizeifahrzeuge zur Folge hatte. Daraufhin verwendeten sie vermehrt mobile Blockaden aus brennende Reifen, um die Vorarbeiten zu stören. Schließlich zog sich das Unternehmen SWN Resources zurück, bevor es die Arbeit fertig gestellt hatte. Und im darauf folgenden Jahr wurde eine Regionalwahl abgehalten, bei die Pro-Fracking-Fraktion abgewählt wurde – im Rahmen einer Wahl, die allgemein als Referendum über das Fracking angesehen wurde.
Die neue Regierung erließ ein Moratorium auf das Fracking. Und obgleich sie viel weniger Leute waren und weit weniger Ressourcen zur Verfügung hatten als in Standing Rock, trugen die Mi‘kmaq dennoch den Sieg davon.
Aus dem Vergleich dieser beiden Kampagnen lassen sich viele Erkenntnisse ziehen und ich würde sogar davor warnen, das Beispiel von Standing Rock wiederholen zu wollen, weil es letztlich bezwungen worden ist.

Weiterführende Literatur:
* Warrior Publications
* Die Berichterstattung von CrimethInc zur Räumung von Standing Rock

Von: CrimethInc. Ex-Workers Collective / Übersetzung: madalton und jt / Erschienen in der Gai Dao 9/17
Originaltext

DON’T TRY TO BREAK US – WE’LL EXPLODE

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Der G20 2017 in Hamburg – umfassender Bericht und Analyse.

Der G20 Gipfel 2017 provozierte die bislang heftigsten Auseinandersetzungen in Deutschland in diesem Jahrhundert. Wir waren vor Ort und haben kontinuierlich berichtet; in dem Monat, der seitdem vergangen ist, haben wir die Berichte aus Hamburg zusammengebracht und einen komplette Chronologie und Analyse hergestellt. Herausgekommen ist eine epische Geschichte von Staatsgewalt und breitem Widerstand dagegen, welcher auf diesem Level bislang sowohl in den USA wie auch in Nordeuropa kaum beobachtet werden konnte.

Die Kurzversion: Die Polizei versuchte mit roher Gewalt all jene, die gekommen waren um gegen den G20 zu protestieren zu isolieren und zu terrorisieren. Im Lauf der Geschehnisse brachten sie so einen großen Teil der Bevölkerung gegen sich auf und die Stadt geriet außer Kontrolle. Dies ruft uns wieder ins Bewusstsein, dass die wichtigsten Ereignisse an den Rändern von jedem gegebenen Konflikt stattfinden – die Verbreitung von Rebellion ist bedeutsamer, als die Aktionen selbsternannter Radikaler. Die Strategie der Polizei unterstreicht wie wichtig altbekannte Zwangsmittel für die Herrschaft der G20 sind; nichtsdestotrotz konnten wir beobachten wie eine entschlossene Bevölkerung selbst die best-trainierte und ausgerüstete Polizei aus-manövrieren kann. Wenn 31.000 militarisierte Polizist_innen, die ihr ganzes Repertoire bis kurz vor tödlicher Gewalt anwenden, nicht in der Lage sind die Ordnung beim wichtigsten und bestgesicherten Ereignis des Jahres in der reichsten Nation Europas aufrecht zu erhalten; dann ist es vielleicht auch wieder vorstellbar, eine Revolution zu denken.

Also müssen wir damit anfangen die Courage all jener die sich gegen den G20 aufgelehnt haben – sei dies durch das Organisieren von Demonstrationen, die Unterbringung von Gästen nachdem die Polizei die Camps angriff, durch das Mitlaufen im Black Bloc, durch die medizinische Hilfe für Opfer von Polizeigewalt oder durch das Stören der scheinheiligen „Hamburg räumt auf“ Aktion im Nachhinein – zu ehren.

Jeder Sieg bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich. Während keine*r erwartet hätte, dass sich Hamburg inmitten einer quasi militärischen Besatzung durch die Polizei erfolgreich zur Wehr setzt und eine temporär autonome Zone errichten würde, gibt dieser Erfolg rechten Autoritären und ihren angsterfüllten linken Komplizinnen eine gefundene Ausrede um nach noch mehr Staatskontrolle zu schreien. In der Konsequenz daraus haben einige Leute – insbesondere jene, die nicht in Hamburg waren – eine Verschwörungstheorie entwickelt, laut der die Autoritäten vorsätzlich der Polizei erlaubt haben die Kontrolle in Hamburg zu verlieren. Dies ist eine alte, wiederkehrende Behauptung, die jedes mal wieder auftaucht, wenn sich die Leute gegen die Polizei behaupten. Es ist ein automatisierter Reflex jener, die sich so sehr an die Kontrolle des Staates gewöhnt haben, dass sie alle Ereignisse dem Einfluss einer monolithischen, allmächtigen Autorität zuweisen. In dieser Chronologie der G20 Proteste werden wir alle Fakten zur Disposition stellen, so dass du für dich selber entscheiden kannst, was passiert ist.

Den ganzen Text mit Bildern, Videos und Links auf crimethinc.com weiterlesen.

Oder hier als PDF runterladen.

In den nächsten Wochen wird dieser Text auch als Broschüre erscheinen, die dann kostenlos bei www.black-mosquito.org bestellbar sein wird

Polizeiliche Hausdurchsuchungen und Soliaktionen

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Das Nachspiel des G20 in Hamburg geht weiter

In den frühen Morgenstunden des 5. Dezember 2017 durchsuchte die Polizei mehr als 20 Wohnungen, Projekte und WGs in ganz Deutschland – eine Fortführung ihres erfolglosen Versuchs Demonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg brutal zu unterdrücken. Die Soko Schwarzer Block begründete die Durchsuchungen mit den Geschehnissen am Rondenbarg, wo die Polizei einer Demonstration den Weg versperrte, die Menge angriff und zahlreiche Menschen zum Teil schwer verletzte. Soliaktionen und Demonstrationen fanden daraufhin in Hannover, Stuttgart, Freiburg, Hamburg, Flensburg, Göttingen und Berlin statt.

Soli-Aktion in Göttingen

Fabio, der am Rondenbarg verhaftet worden war und vier Monate in Haft verbrachte, wurde zum Symbol der skandalösen Lügen, die Polizei und Justiz über diesen Polizeiangriff verbreiteten.„Antifa-Schweine: Das ist euer Frühstück“ riefen die Beamten während sie 14 Menschen eine Mauer hinunter traten. Die Folge: Knochenbrüche und weitere schwere Verletzungen.

Seit panorama (NDR) ein Polizeivideo von der Situation veröffentlicht hat, können wir alle die unterschiedlichen Versionen der Geschehnisse direkt damit vergleichen. Ein weiteres von Panorma veröffentlichtes Polizeivideo zeigt noch mehr Polizeigewalt, und keinerlei Gewalt seitens der Demonstrant*innen. Geschichte wird von den Mächtigen geschrieben und was wir hier gerade miterleben ist die Produktion von Wahrheit. Die Wahrheit, die Gerichte und Polizei zu definieren versuchen ist nicht kompatibel mit den Erfahrungen tausender Menschen, die ohne erkennbare Anlässe brutal verprügelt, von Wasserwerfern verfolgt und mit Pfefferspray malträtiert wurden.

Der offizielle Vorwurf ist Landfriedensbruch. Aber sogar der Polizeisprecher bestätigte, dass es bei den aktuellen Durchsuchungen nicht um das Auffinden von Beweisen bezüglich konkreter Handlungen auf der Demo ging, sondern darum, Strukturen zu durchleuchten und die Organisator_innen der Riots zu finden. In anderen Worten: Das explizite Ziel der Polizei ist, Widerständigkeit durch Gewalt und andauernde Unterdrückung zu unterbinden.

Die Intention der Polizei ist, die von ihnen angegriffenen Menschen nun als Randalierer_innen zu präsentieren und zu stigmatisieren. Sie durchsuchten sogar die Wohnungen von Gewerkschaftsmitgliedern, was einer der Gründe sein könnte, weshalb sogar Mainstream-Medien die Durchsuchungen als PR-Bluff beschrieben. Den Betroffenen wird nichts weiter vorgeworfen, als an einer Demonstration teilgenommen zu haben aus der heraus auch Steine und Pyrotechnik geworfen wurden – konkrete Werfende erwartet die Polizei auch durch die Razzien nicht zu finden.

Die Prioritäten des Staates, der mit aller Gewalt gegen populäre Protestbewegungen vorgeht und auf der anderen Seite perfekte Bedingungen für Nazis schafft, werden auch an einer kürzlich veröffentlichten Zahl deutlich: Über 500 Nazis leben derzeit mit offenen Haftbefehlen im Untergrund – Zahl steigend.
Die Polizei hat darüberhinaus angekündigt noch in diesem Jahr 3000 Verfahren gegen Beteiligte an den G20-Protesten zu eröffnen. Die Durchsuchungen waren also nur der Anfang.

In den Mainstream-Medien wurde Fabios couragierte Prozesserklärung zum Teil als naiv dargestellt, doch überraschenderweise hat sogar der NDR betont, dass es möglich sein muss, Demokratie als solche zu kritisieren, da sie offenkundig nicht in der Lage sei wachsende finanzielle Ungleichheiten und Ressourcenknappheit effektiv zu bekämpfen.

Wir sollten unsere Computer verschlüsseln, unsere Zimmer aufräumen und miteinander Erfahrungen austauschen, wie es ist, wenn die Polizei Fotos, Emails und unsere Unterwäsche durchstöbert. Wir können über unsere Ängste und deren Gründe reden und darüber wie wir einander unterstützen können. Wir sollten Soliaktionen organisieren. Darüberhinaus sollten wir die aktuelle Situation jedoch auch verstärkt nutzen, um über unsere Erfahrungen und unsere Vision einer Welt ohne Polizei zu reden.

Soli-Aktion in Flensburg

Weiterführendes:
United We Stand: Solidarity campaign against G20 repression
Weitere Details über die Hausdurchsuchungen (englisch)
CrimethInc.’s Report über die G20 Proteste
Fotos von der Hausdurchsuchung und den Soli-Aktionen in Göttingen
Erste Stellungnahmen einiger Betroffener.

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